06 Feb. Abwartend skeptisch, aus Gründen
Wo wohnst du denn?
Mir gegenüber im Klassenraum sitzt eine Schülerin, sie ist etwa 15 Jahre alt, stammt irgendwo aus Asien und kann nur etwas deutsch.
In Neuhardenberg, sagt sie, im Heim.
Ich bitte sie, diesen Ort auf einem Papier einzuzeichnen und dann den Schulstandort zu ergänzen, sodass eine Karte entsteht. Das tut sie und verbindet dann die beiden Häuser, das Flüchtlingsheim und die Schule, mit einem Strich. Dieser Strich ist die Straße, auf der sie jeden Morgen im Bus zur Schule nach Neutrebbin fährt, und am Nachmittag von dort zurück.
Und sonst, frage ich, gibt es sonst einen Ort, den ihr aufsucht?
Das Mädchen schüttelt den Kopf, auch die drei Mitschüler verneinen. Nein, sonst gäbe es keinen Ort.
Ich schaue auf das Papier. Fünfzehn Jahre und zwei Punkte, dazwischen ein Strich. Das ist traurig, denke ich.
Ach, doch! Die Miene der Schülerin hellt sich auf. Da ist noch ein kleiner Wald! Sie greift zum Kugelschreiber und zeichnet ein paar Bäume auf das Papier, ganz in der Nähe des Flüchtlingsheims. Ein Wald, da gehen wir manchmal hin.
Jetzt sind wir beide irgendwie erleichtert. Die kleine Karte sieht ein bisschen nach einem Stück der Welt aus.
Ein anderes Mädchen wohnt in Bliesdorf. Sie ist hier geboren, sie lebt nicht ganz so isoliert. Auch sie fährt mit dem Bus zur Schule, nach Wriezen.
Das ist ja nicht weit, sage ich, hast du kein Fahrrad? Das Fahrrad sei kaputt, antwortet sie. Aha, kaputt. Kann man es nicht reparieren? Sie wüsste nicht, wie.
Aber könnten dir deine Eltern nicht helfen? Nein, das täten die wohl nicht.
Aber, hake ich nach, gehst du denn nur zur Schule? Sie treffe sich manchmal mit Freunden, auch in Wriezen, in diesem Falle laufe sie einfach den Weg in die Stadt hinein.
Und was macht ihr dann in Wriezen? Wir laufen herum.
Ihr lauft herum, sage ich, habt ihr denn keinen Ort, wo ihr euch aufhalten könnt? Den hatten wir einmal, eine schöne Stelle, aber da haben uns ältere Jugendliche vertrieben. Das ist jetzt deren Stelle. Seitdem laufen wir zusammen herum. Höchstens der Rewe-Parkplatz käme noch infrage, wenn man mal nicht laufen will.
Vor knapp zwei Jahren befragten wir in einer Sommerschule knapp 500 Jugendliche im Oderbruch nach ihrem Verhalten im Raum. Die Schulen hatten uns freundlicherweise die Möglichkeit dazu gegeben. Es waren Tage voller eigenartiger Berichte. Parkplätzen an Supermärkten spielten bei den meisten eine Rolle, sie sind Landmarken zur Wegbeschreibung: Der Bus biegt am Norma ab, die Schule liegt nicht weit vom Lidl. Das ist folgerichtig, auf diesen Parkplätzen kann man sich ungefährdet aufhalten, geschützt durch die einkaufenden Menschen und zugleich weitgehend ignoriert, außerdem kann man sich hier für wenig Geld verpflegen. Auch in Neutrebbin, dessen Supermarkt in diesem Jahr schließen wird, gingen die Schüler gern in der Edeka-Kaufhalle Hübner einkaufen. Viele stiegen morgens bereits hier aus dem Bus, ein gutes Stück vor der Schule, um einen etwas längeren Fußweg zu haben, auf dem sie ohne Kontrolle durch Busfahrer oder Lehrer unter sich sein konnten. Fünf kostbare Minuten.
Es gibt Jugendliche, die sich recht selbstbestimmt durch die Landschaft bewegen können. Sie kombinieren alle denkbaren Mobilitätsformen, den Bus, das eigene Moped, die autofahrenden Eltern, Schleichwege zu Fuß oder per Fahrrad. Ihre kleinen Landkarten sind voller Eintragungen: hier liegt die Wohnung der Freundin, dort ist das Gerätehaus der Feuerwehr, da ist die Turnhalle, die Musikschule, eine gute Angelstelle oder der Platz, an dem man mit Freunden abhängen kann. Die verschiedenen Orte, die sich diese jungen Menschen aneignen können, machen aus der Landschaft ein Gelände, von dem es etwas zu erzählen gibt, das sogar romantische Erlebnisse bietet. Ein Mädchen lässt ihr Moped absaufen, um in Ruhe den Sonnenuntergang zu betrachten. Ein Junge berichtet von einer geheimen Hütte, die nur er und seine zwei Freunde kennen. Es fällt auf, dass diese Jugendlichen oft aus traditionellen, länger hier ansässigen Familien kommen, deren Eltern schon in der Gegend unterwegs waren und deshalb die vielfältige Aneignung der Landschaft unterstützen können. Kinder später zugezogener Familien erkunden die Gegend eher allein, wenn ihre Eltern ihnen das erlauben. Es sei denn, sie haben Freundschaften mit den anderen geschlossen, sodass diese ihnen zeigen können, wo Winkel und Wege sind.
Die Landschaft verändert sich, und mit ihr das, was man in ihr tun kann und darf. Vor 100 Jahren gab es kaum spezielle Räume für Jugendliche, weder drinnen noch draußen. Ein eigenes Zimmer hatten sie nicht, und es gab auch keine Jugendclubs oder Diskotheken. Auf dem Land aber waren junge Menschen in die Bewirtschaftung von Hof, Wiese und Feld einbezogen, insofern waren sie doch befugt, sich dort auch aufzuhalten. Hier schnitt man Grünzeug für die Karnickel, dort wendete man Heu oder hütete das Weidevieh, da war man Kartoffeln stoppeln. So fanden die Jugendlichen auch Verstecke, in denen sie unbeobachtet zusammenkommen konnten. Durch die Selbstversorgung der ländlichen Haushalte war die Landschaft auch ihre Landschaft. Und die Erwachsenen wussten, dass man dem Nachwuchs seine Nischen gewähren musste.
Heute dagegen haben die meisten Jugendlichen ein Zimmer. Hier sind sie durch das Internet mit der ganzen Welt verbunden, hier können sie unfassbar viele Informationen beziehen und scheinbar mit unendlich vielen anderen kommunizieren. Der Außenraum dagegen ist beinahe steril, man hat in ihm buchstäblich nichts zu suchen. Da gibt es den Weg zum Bus, doch was ist mit dem Rändern der Dörfer? Wo gibt es Brachen, undefinierte Bereiche? Die Landschaft wird immer mehr eingezäunt, eingeteilt und abgegrenzt, doch Jugendliche brauchen Grauzonen. Aber Grauzonen lassen sich nicht verwerten, also verschwinden sie. Wie soll ein Wechsel von der familiären Bindung in einen offeneren, weiteren sozialen Horizont gelingen, wenn alle Orte definiert sind, wenn immer schon vorgegeben ist, unter welchen Bedingungen und in welcher Funktion man sich an ihnen aufhalten darf? Wo bleibt das Suchen, Ausprobieren, die Verheißung, der Rückzug, der neue Versuch? Das Verhältnis der jungen Menschen zum öffentlichen Raum ist fragil, die Landschaft aber wird immer fester und massiver.
Die Welt ändert sich, also ändert sich auch das jugendliche Leben. Meines war jedenfalls ganz anders.
Als Heranwachsender, irgendwann im Alter von 13, 14 Jahren, befiel mich eine Gier nach anderen Jugendlichen. Ich wollte unbedingt jenseits meiner Schulklasse Gleichaltrige finden, um mit ihnen Zeit zu verbringen, gemeinsame Interessen zu entwickeln oder mich mit ihnen herumzutreiben. Dieses Bedürfnis war stark, und es blieb lange bestimmend. Auch als ich schon Vater eines kleinen Jungen und nach allgemeinen Vorstellungen erwachsen war, bedeutete es mir viel, andere zu treffen, mit ihnen zu feiern oder gemeinsam etwas zu unternehmen. Die freie, nur auf Neugier oder Sympathie basierende Bekanntschaft war auch nicht durch die Kontakte im Sportclub oder in anderen Freizeitzusammenhängen zu ersetzen. Ich suchte immer nach Menschen, die mit mir etwas anfangen konnten, mit denen ich in Resonanz treten konnte ohne die Klammer eines Zwecks.
Und wir haben uns herumgetrieben, die Stadt oder das ganze Land erkundet, das allerdings, zugegeben, nicht besonders groß war. Wir sind am Wochenende nach Weimar getrampt oder in Berlin bei irgendwelchen Leuten abgestiegen, die da eine Wohnung hatten. Wir besuchten Menschen, die wir kaum kannten, fuhren mit dem Rad an den See zum Baden, irgendjemand wusste, wo ein Boot lag oder ein Schrebergartenhaus zum Übernachten war, es ergab sich immer etwas. Es musste nur einer von uns ein nächstes Ziel ausrufen, dann wurde das verfolgt; ein Rockkonzert in einem Dorfgasthof mit Übernachtung im Stroh, eine Theateraufführung in Parchim, wir nahmen, was wir kriegen konnten. Wir waren wie eine leicht entzündliche Lunte. Wenn jemand rief: Wir trampen zum Schwarzen Meer, dann haben wir das gemacht, ohne Zelt, mit dem Schlafsack im Straßengraben. Unsere Eltern wussten wochenlang nicht, wo wir steckten.
Nichts von dieser Gier kann ich bei meinen Kindern erkennen, und auch nicht bei ihren Altersgenossen. Die meisten verbringen bereitwillig ihre Zeit zu Hause und mit ihren Eltern. Meine jüngeren Kinder gehen gern mit uns Essen, begleiten uns auf Reisen, in die Konzerte und sogar zu den Festen, bei denen wir uns mit unseren Freunden treffen. Die Welt da draußen scheint kaum noch Verheißungen bereitzuhalten. Viele sind zudem mit ihren Familien schon in anderen Ländern gewesen, man hat auch als junger Mensch allerhand gesehen, jedenfalls wenn die Eltern es sich leisten konnten.
Auch der Austausch mit Gleichaltrigen, der mir Einblicke in andere Lebensmodelle bot, mutet heute eher anstrengend an, wie eine zu erledigende Pflicht. Selbst wer aus sozial benachteiligten Verhältnissen kommt, scheint nicht mehr davon auszugehen, die erfahrenen Grenzen in Mobilität und Lebensqualität im zukünftigen Leben überschreiten zu können. Wozu das andere Leben also erkunden? Aufstieg und Ausstieg waren in meiner Generation Optionen auf eine grundlegende Alternative zum elterlichen Lebensmodell. Das kann ich bei den jungen Menschen heute kaum erkennen. Die wenigsten feiern Partys. Als mein Sohn seinen 16. Geburtstag und zudem seinen Abschied wegen eines Auslandsjahrs feierte (als einziger Schüler seines Jahrgangs übrigens), begegneten sich die jungen Freunde freundlich und höflich in unserem Garten. Am Feuer schmorten sie ein paar Marshmallows, um 22 Uhr ließen sie sich von ihren Eltern abholen, sofern sie nicht selbst fahren konnten.
Diese Gedämpftheit geht einher mit einer sehr bescheidenen Sicht auf die eigenen geistigen und körperlichen Möglichkeiten. Im Internet sehen Jugendliche heute großartige Leistungen anderer Jugendlicher. Die fahren Skateboard, spielen meisterlich Schach oder sprayen Bilder in einer Qualität, die man ermessen, aber vielleicht nie erreichen kann. Jede eigene Aktivität steht im Zenit dessen, was andere schon können. Ich hatte als junger Mensch gar kein Bewusstsein davon, wie schlecht ich in manchen Dingen war. Nahm ich etwas in Angriff, brauchte ich also kaum Mut, ich sah die Fallhöhe gar nicht. Meine Kinder sehen die Fallhöhe jeden Tag. Ich bewundere meine Tochter dafür, dass sie an fünf Tagen der Woche Volleyball und Cello spielt, obwohl sie ihre sportlichen und musikalischen Leistungen äußerst skeptisch einschätzt.
Auf dem Land gibt es auch keinen Jugendtanz mehr, es sei denn, man betreibt ihn als Sport oder ernstes Hobby. Es ist meiner Tochter nicht peinlich, ihre Eltern tanzen zu sehen, sie kann das gut aushalten. Aber selbst tanzen? Auf keinen Fall. Ich würde ihr wünschen, dass sie auch tanzen kann, mit anderen Jugendlichen, in ihrem Alter.
Und die Schule? In Brandenburg beginnt sie mit einer langen gemeinsamen Grundschulphase, in der zumindest auf dem Land Kinder verschiedenster sozialer Herkunft miteinander lernen und heranwachsen. Diese sechs Jahre habe ich bei meinen Kindern als etwas ausgesprochen Wertvolles erlebt. Eine Lehrerin veranstaltete Rezitationsnachmittage, ich konnte als Juror bei den Schulausscheiden sehen, dass gerade unterprivilegierte Kinder die Möglichkeit, durch das gesprochene Wort einen eigenen Ausdruck zu finden, gern annahmen. Ich weiß noch, wie ein Mädchen aus einer betreuten Wohneinrichtung ein Gedicht von Theodor Storm rezitierte, dass sie offenbar selbst gefunden hatte. Sie war in der fünften Klasse. Das erinnerte mich an meine Schulzeit, in der die verschiedenen sozialen Voraussetzungen durch engagierte Lehrer oft ausgeglichen worden waren.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese kleine geschützte Grundschulwelt beansprucht und beeinträchtigt wird. Als ich die engagierte Deutschlehrerin neulich traf, erzählte sie mir, dass sie ihre Aktivitäten aufgeben musste. Die zunehmende Belastung durch den Lehrermangel und durch eine immer unübersichtlichere Schülerschaft raubten ihr die Kraft. Sie fühlte sich mit ihrem Bemühen allein gelassen, als verfolge sie damit nur ein privates Anliegen. Es gibt kein ermutigendes Umfeld; tu es oder lass es. Vielleicht geht man davon aus, dass sich nun die Schulsozialarbeiter um solche Dinge kümmern müssen. Aber ist es richtig, diese Beziehungsarbeit abzugeben?
Was auf die Grundschule folgt, sind die krass auseinandertretenden Welten der Oberschulen und Gymnasien. Hier trennen sich die Wege radikal. Ich habe Oberschulklassen erlebt, in denen so viele Einwandererkinder mit so gravierenden Schwierigkeiten waren, dass das Ziel aller Beteiligten, einschließlich der Lehrer, nur noch darin zu bestehen schien, die jeweiligen 45 Unterrichtsminuten zu überstehen. Das war eine vergleichsweise ruhige Stunde, sagte ein Lehrer zu mir, nachdem ich dem chaotischen und lauten Treiben einmal zugeschaut hatte. Über die Verblüffung, die sich in meinem Gesicht abzeichnete, schien er sich zu amüsieren.
Nein, es ist nicht so, dass diese Probleme in der Gesellschaft unbekannt wären. Aber der gesellschaftliche Umgang damit zeugt von einer großen politischen Ignoranz.
Dagegen hatte ich in einer Gymnasialklasse die Gelegenheit, ein Lyrikprojekt zu begleiten. Es war eine genau gegenteilige, geradezu anrührende Erfahrung. Eine ganze Klasse war, offenbar motiviert durch ihre hervorragende Deutschlehrerin, bereit, in die poetische Welt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts einzutauchen, fremde, manchmal rätselhafte Texte zu sprechen, den Worten nachzulauschen, sich gegenseitig zu besserem Sprechen anzuhalten, laut und leise zu rezitieren, ohne den Hauch einer Albernheit. Als die Jugendlichen auf einem alten Friedhof in Neureetz diese Gedichte vortrugen, ernsthaft und klar, vernehmlich und sprachbewusst, waren alle Erwachsenen bewegt. Ein Junge aus Syrien rezitierte ein Gedicht über verlorene Heimat, eigentlich aus der Erfahrung eines deutschen Bauern geschrieben, nun aber durch die schwere Zunge des Akzents von einer beredten Mehrdeutigkeit. Und schließlich standen alle verteilt über den Friedhof hinweg zwischen den Gräbern und erzählten in Gedichtform die Geschichte einer jungen Frau, die in ihrem Dorf gestorben und von ihren Mitmenschen begraben worden war. Ich habe lange nicht mehr so etwas Schönes und Zartes erlebt.
Ganz gleich aber, wie die Bildungswege der Jugendlichen verlaufen und was ihnen durch die vielfache Überfrachtung des Bildungswesens doch noch ermöglicht wird oder auf immer versagt bleibt; eine Erfahrung teilen alle miteinander: die Corona-Zeit. Dieses Erlebnis, fußend auf der ohnehin schwierigen Ausgangslage einer mit ihrer Verantwortung für die Nachwachsenden überforderten Gesellschaft hat aus einer vielleicht nur schwierigen Situation geradezu ein Unglück werden lassen.
Über Jahre hinweg wurden diese jungen Menschen immer wieder nach Hause geschickt, nicht mehr oder nur halbherzig betreut, der Unterricht zu einer bloßen Wissensvermittlung degradiert und diese Verflachung als Fortschritt in der Digitalisierung gefeiert. Die soziale Dimension dessen, was Bildung ist, sein muss, wurde völlig preisgegeben.
Fand der Unterricht doch einmal in regulärer Weise statt, zwang man den Schülern Masken auf, gegen jede Vernunft, gegen jedes Wissen von menschlicher Gesundheit und Kommunikation, gegen jede Vorschrift zum begrenzten Tragen dieses medizinischen Mund-Nasen-Schutzes, acht Stunden am Tag. Kaum ein Erwachsener musste sich dieser Tortur unterziehen.
Wie unehrlich diese ganze Behandlung war, lässt sich leicht daran ermessen, dass niemand auf die Idee kam, wenigstens einmal wöchentlich zusammen wandern zu gehen, was bei Wind und Wetter leicht möglich und ganz unbedenklich gewesen wäre. So hätte man immerhin die Beziehungen der Schüler erhalten können. Ich erinnere mich an die leere Miene einer Lehrerin, als ich das einmal vorschlug. Sie verstand gar nicht, was ich von ihr wollte.
Mein Sohn ist schließlich mit seinen Schulfreunden von allein auf diese Idee gekommen, sie verabredeten sich immer wieder zum Wandern in den Wäldern oberhalb des Oderbruchs. Das war klug, und sie sind auch bis heute miteinander befreundet. Aber eine Ausnahme war es doch. Der Normalfall war die Vereinsamung, zumal es über lange Zeit sogar kritisiert wurde, wenn die Eltern ihre Kinder an den Nachmittagen zusammenbrachten.
Ich war damals oft drauf und dran, in die Schule zu gehen und zu protestieren. Zurückgehalten hat mich das Verhalten meines Sohnes. Er sah ganz klar die Aussichtslosigkeit eines solchen Widerstands. Das laute oder auch leise Eingreifen seines Vaters hätte ihm nichts genutzt, vielleicht sogar geschadet. Einmal sagte er mir, es sei für ihn am besten, diese ganze Behandlung durch sich durchlaufen zu lassen und nicht in Opposition zu gehen. Die Lächerlichkeit der ganzen Restriktionen und Vorschriften sah er völlig ungeschminkt. Er und seine Schwester gingen auf eigenen Wunsch viele Male mit uns Eltern zu den Corona-Demonstrationen. Aber sie machten nicht viele Worte darüber. Es hatte keinen Sinn.
Die Jugendlichen der Corona-Zeit haben erlebt, dass das politische und das Bildungssystem der Erwachsenen es nicht gut mit ihnen meint, oder genauer: dass sie als Menschen gar keine Bedeutung in diesem System haben. Dass vielen Lehrern ihr eigenes Wohl wichtiger war als das der ihnen anvertrauen jungen Menschen, sei es aus Angst vor Erkrankung, sei es aus Feigheit, für den Versuch eines Widerspruchs bestraft zu werden. Sie haben erlebt, dass man sie wie zu füllende Festplatten behandelt, über die Notwendigkeit der Verhüllung ihres Gesichts belogen und oft sogar genötigt hat, sich fragwürdigen medizinischen Behandlungen zu unterziehen. Nun ist von den psychischen Schäden die Rede, die dadurch angerichtet wurden, und das zu Recht. Hat irgendjemand etwas anderes erwartet?
Aber es wird angesichts der traurigen gesundheitlichen Folgen auch ein weiterer Effekt übersehen, der sich bei jenen bemerkbar macht, die diese Zeit irgendwie ohne gravierende Symptome überstanden haben: Diese jungen Menschen haben einfach kein Vertrauen in die Gesellschaft der Erwachsenen mehr, ausgenommen vielleicht in die ihrer Eltern. Die beschriebene Rückbindung an die Familie, die bereits durch die veränderte Landschaft gefördert wird, verstärkt sich also noch einmal. Auf dem Land fällt das noch mehr ins Gewicht, denn hier leben nun einmal weniger Menschen, die ihr Arbeitsleben bequem ins Homeoffice verlegen konnten. (Uns ging es doch gut, so sagte es mir ein Berliner Kommilitone aus Studienzeiten, der es genoss, nicht mehr in seine Zeitungsredaktion fahren zu müssen.) Im Oderbruch leben überwiegend Menschen, die ihrer Arbeit weiterhin an ihren Arbeitsplätzen nachgehen, ihre Kinder also allein lassen mussten. Was denken eigentlich die Erwachsenen, die diese Behandlung mitgetragen oder sogar gefordert und forciert haben, was das mit jungen Menschen macht? Glauben sie wirklich, mit der Ausrede, man habe es nicht besser gewusst, sei es getan?
Was bleibt, ist bestenfalls eine ausgeprägte Vorsicht gegenüber allem, was aus dem öffentlichen und politischen Raum auf sie einwirkt. Wer soll denn heute noch davon ausgehen, dass diese Gesellschaft einen nicht benutzen wird, ganz gleich, in welchem Beruf man sich ihr zur Verfügung stellt? Dass man als Soldat in nicht einem Krieg verheizt, als Krankenschwester nicht zwangsgeimpft oder als Landwirt nicht in eine bürokratische Kontrollmaschine eingespannt wird, die einen gängelt und straft? Die traurige Wahrheit ist, dass jeder Jugendliche heute gut beraten ist, diese und weitere Möglichkeiten bei der Gestaltung seiner Zukunft zumindest in Betracht zu ziehen. Deshalb ist es auch plausibel, dass jene Jugendlichen, die ein halbwegs intaktes Elternhaus ihr Eigen nennen können, dieses als sichere und beste aller verfügbaren Welten behandeln. Gepaart mit ihrer bescheidenen Selbstwahrnehmung schauen sie abwartend auf die Welt, als fürchteten sie, andernfalls von einer rasenden Gegenwart zerquetscht zu werden.
Die bescheidene Sicht auf das eigene Vermögen, die man auch fehlende Unbefangenheit nennen könnte, kam auch in den längeren Interviews zum Ausdruck, die ich und meine Kollegen mit über zwanzig Jugendlichen führen konnten. Es waren junge Menschen mit sehr verschiedenen Voraussetzungen und Prägungen; manche wuchsen in der Geborgenheit einer Dorfgemeinschaft auf, andere saßen im Gefängnis, einige waren in betreuten Wohnformen untergebracht, andere lebten in traditionellen Familien. Aber alle wogen ihre Worte ab, sagten nicht mehr, als sie sicher aus eigener Erfahrung zu berichten hatten und hielten ihre Wünsche und Träume für ein zukünftiges Leben im Zaum. Ich denke, wenn man sie dabei unterstützen will, aus der Determiniertheit der gegenwärtigen Bedingungen, aus dem Druck der Moralisierung und all den Weltuntergangsorgien herauszukommen, dann hilft kein Empowerment-Programm, keine drittmittelfinanzierte Zuwendung auf Zeit. Es hilft nur die Bereitschaft der Erwachsenen, in Beziehung zu treten, den jungen Menschen, wo immer man ein Stück Leben mit ihnen teilt, zu zeigen, dass man sie sieht, ihnen Interesse und Empathie entgegenzubringen, sich und ihnen Zeit zu lassen, um ihnen die Gelegenheit zu geben, aus der Deckung zu kommen. Es ist noch vieles offen, und vieles kann am Ende gut herauskommen. Aber es ist nicht mehr viel Zeit, sich zu öffnen und diese Jugendlichen anzuschauen. Einen Schritt zurückzutreten und sie endlich zu sehen.
Im vergangenen September hatte ich mit dem Bauernverband und der Handwerkskammer ein ländliches Erntefest organisiert. Wir wollten gern Lehrlinge aus der Region auf der Bühne haben, denn nach wie vor ist es für die Betriebe nicht leicht, Nachwuchs zu finden. Es kamen sieben: eine angehende Fachverkäuferin für Backwaren, ein zukünftiger Elektriker, ein werdender Dachdecker, eine junge Tierwirtin, ein Landmaschinenschlosser und zwei angehende Pflanzenbauer. Alle traten ans Mikrofon, stellten sich vor und berichteten, wo sie wohnten und wo sich ihr Lehrstelle befand. Manche hatten ein kleines Objekt mitgebracht, das für ihre Arbeit stand. Ihr Auftreten hat uns alle beeindruckt. Man sah, dass Sie ihre Arbeit mochten, dass sie sie sinnvoll fanden und sich auf ihre Ausübung freuten. Es fiel ihnen nicht schwer, sich öffentlich dazu zu äußern. Und man spürte, dass es in ihrem Lehrverhältnis Menschen gab, die ihnen auf ihrem Weg halfen; durch ihr Wissen und vor allem dadurch, dass sie ihre eigene Beziehung zum jeweiligen Fach als Lernmenge anboten. Es ist eine persönliche Sache. Wer das nicht sieht, sollte nicht über Bildung sprechen.
(Februar 2025)