02 Okt Haltung, Ordnung, Erdung
Eine kleine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Haltungsboom
HALTUNG ZEIGEN, so stand es gerade auf vielen Transparenten an unseren Straßenlaternen. Es gibt auch eine Webseite für Brandenburg, die Haltung verspricht, bei der man unterschreiben und so die seine zum Ausdruck bringen kann. Immer wieder beteuern junge Menschen, sie hätten schließlich eine Haltung, die sie auch zeigen wollten, vor allem durch ihre gerechte Sprache.
Gerade war ich auf einer Tagung über demokratische Kultur und erläuterte dort in einem Vortrag den Wert des Beschreibens gegenüber dem Urteilen: An Beschreibungen der Welt können prinzipiell alle Menschen mitwirken – auch jene, die unterschiedliche Meinungen haben. Beschreibungen sind empirisch überprüfbar, und man kann sie verbessern. Mit dem ständigen Urteilen dagegen lege man sich und andere auf Positionen und Zensuren fest, was einer Gesellschaft nicht immer gut tue. Ich warb also für eine Idee von Kultur, die die Menschen zur Mitwirkung einlädt.
Es war ein Journalist anwesend, der in seinem Bericht eine Frau in Auditorium zitierte, die meinen Vortrag als pure Haltungslosigkeit kritisierte. Der Journalist schien ihr zuzustimmen. Was, wenn nicht Konfliktscheue, ist die Verweigerung einer „klaren Haltung“?
Ich habe darüber nachgedacht.
Es gibt einen ganz einfachen Aspekt, der eigentlich einleuchten sollte: Sofern wir über öffentlich geförderte Kultur sprechen (wie die eben genannte Tagung), wird diese von allen, die Steuern zahlen, finanziert. Ich darf also gar nicht meine eigene Sichtweise zum Maßstab machen, ich muss mir vielmehr eine Zurückhaltung auferlegen. So zwingend das für mich klingt, ich stelle immer wieder fest, dass jene, die eine deutlichere Haltung fordern, dieses Argument nicht akzeptieren. Sie gehen davon aus, dass die Wichtigkeit des jeweiligen Anliegens ein Trumpf ist, der alle Bedenken aussticht.
Also gut, gehen wir etwas tiefer: Es ist das Bekenntnishafte, das mich abschreckt. Öffentliche Bekenntnisse nutzen sich ab, man darf sie weder allzu oft fordern noch täglich abgeben. Das habe ich in meiner Kindheit erlebt. Eine Gesellschaft, in der man jeden Tag kleine und große Bekenntnisse durch die Sprache, durch Plakate und Botschaften abgeben und empfangen muss, höhlt auf Dauer jede Bedeutung aus. Die Mitteilung, und sei sie auch noch so wichtig, verliert ihren Wert. In der Folge werden die Gesten größer und gröber, um den Substanzverlust wettzumachen. Und das dann einsetzende allgemeine Nachplappern macht einen nicht unbedingt klüger.
Es ist wie in einer Beziehung. Wenn man sich täglich „Ich liebe Dich“ sagt, sagen muss, dann stimmt etwas nicht. Ja, es kann geradezu etwas Falsches daraus werden.
Aber die „Haltung“, die derzeit im Schwange ist, ist ja noch nicht einmal eine sich abnutzende Liebesnachricht, sie ist vielmehr eine Abwehrbotschaft: Da gibt es böse Kräfte, und gegen diese nehmen wir unsere (gemeinsame) Haltung ein! Es handelt sich hier also nicht einmal mehr um eine individuelle, persönliche Geste, es ist der Sprechchor einer Gruppe: Wir sind für das Gute, ja, wir sind das Gute! Und auch dieses Bekenntnis muss, damit es der Abnutzung widersteht, täglich lauter und leerer werden. Und in diese Leere dringen unweigerlich soziale Mechanismen ein, die etwas mit uns machen.
Was geschieht, wenn das moralische Urteil zur anerkannten Währung im öffentlichen Sprechen wird, hat der Soziologe Niklas Luhmann einmal so formuliert: „Ich verstehe unter Moral eine Art von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung und Missachtung enthält.“ Mit der Einteilung der Welt in Gut und Böse teilen sich die Sprechenden selbst in Gruppen auf. Fortan müssen sie fürchten, der öffentlichen Missachtung anheimzufallen und also zur schlechten Gruppe gezählt zu werden, sobald sie durch ihre Äußerungen gegen die etablierten moralischen Standards verstoßen. Ihre „Haltung“ wird zu einer Handlung, mit der sie ihrer Ächtung zuvorkommen.
Bevor das Wort „Haltung“ zu einer öffentlichen Forderung im politischen Raum wurde, hätte ich diesen Begriff immer als etwas charakterisiert, das tief in einem selbst mit der Welt in Schwingung ist, etwas Geheimnisvolles und Feines, dessen Grund nicht leicht zu finden ist. Es spielen Momente der Ehrlichkeit, des Wissens und der Abwägung hinein, im Wechselspiel mit Beobachtungen und dem täglichen In-der-Welt-Sein. Alle diese Momente arbeiten im Stillen, sie verändern ihren Charakter, sobald man sie ausspricht. Wer da sagt: Ich bin ehrlich, ich bin der Ehrliche; bezichtigt der nicht die anderen der Lüge? Wer auf sein Wissen pocht; spricht der nicht den anderen ihr Wissen ab? Und wer seine kluge Abwägung ins Feld führt; unterstellt er nicht den anderen, sie hätten nicht abgewogen? Was soll daraus für eine Kommunikation werden?
Nein, es geht einfach nicht, dass man seine Haltung täglich nach außen kehrt, das muss eine Ausnahme sein! Da die Welt, wie die Haltungsträger zur Abwehr des Populismus („Es gibt keine einfachen Antworten auf komplizierte Sachverhalte!“) täglich betonen, vielfältig und widersprüchlich ist, muss auch unsere Haltung Widersprüche und offene Horizonte in sich bergen. Sie sollte für die anderen erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar werden. Nur dadurch bleibt man ansprechbar und gibt sich und der Gesellschaft eine Chance auf Veränderung.
Seit Jahrhunderten fragen die Menschen: Was würde Jesus tun? Und ja, sie kommen meist zu einer Vermutung, was Jesus wohl in einer bestimmten Situation tun und sagen würde. Aber sie können es nicht wissen. Wüssten sie es, müssten sie sich selbst nicht fragen, was richtig ist. Und dann wäre es nichts wert.
Führt das nicht in die Beliebigkeit, höre ich die Anderen fragen? Wenn alle nur in sich selbst hineinforschen, heißt das nicht, dass nie jemand eine Position bezieht? Gegen all das Schlechte in der Welt?
Nun: Ausgerechnet die Haltungsmenschen legten meiner Beobachtung nach in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Biegsamkeit gegenüber vielem Schlechten an den Tag, vor allem den Zumutungen der Macht gegenüber, sodass ich mich schon wundere, wie sie das eigentlich in sich selbst gedanklich verarbeiten. Ich vermute, es fehlt ihnen, statt an Haltung, vielleicht einfach an geistiger Ordnung. Will man nicht von einer Zeitenwende in die nächste beordert werden, benötigt man anstelle einer kollektiven Vereinbarung wohl eher eine Klarheit der Begriffe und der Gefühle. Anders als mit einem solchen Mangel an innerer Aufgeräumtheit kann ich mir nicht erklären, dass so viele Menschen sich alle paar Monate einen neuen Feind vor ihre Fernsehcouch setzen lassen. Und nicht nur lassen sie das mit sich geschehen, sie tragen es auch weiter. Wie das so ist, wenn man in der Menge steht und geschubst wird: Man schubst die um einen Herumstehenden gleich noch mit.
Mich erstaunt es immer wieder, wie leichtfertig mit den Begriffen „Gesundheit“ oder „Frieden“ oder „Demokratie“ gegenwärtig herumgewürfelt wird, als ginge es um ein Hütchenspiel. Ich habe eine Vorstellung davon, was unter diesen Worten zu verstehen ist. Ich lasse mir nicht täglich was anderes erzählen.
Aber im Guten: Wer sich so sehr nach einer Haltung sehnt, sollte vielleicht nicht so sehr nach einer Position zum Festhalten suchen, denn Positionen sind beziehungslose Punkte, die in der veränderlichen Welt gerade keinen Halt geben. Es braucht, um neben Haltung und Ordnung noch einen dritten Begriff einzuführen, so etwas wie Erdung. Damit meine ich eine Verbundenheit mit gewissen Umständen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Das kann eine regionale oder eine familiäre Herkunft sein, eine menschliche Beziehung oder eine andere tiefe Erfahrung – und es muss nicht einmal eine besonders gute Erfahrung sein, es muss einfach nur unsere eigene sein. Gerade die Beschränktheit unseres kleinen Lebens, das ist das Schöne daran, gibt uns in der großen unübersichtlichen Welt einen Ort, von dem aus wir uns umschauen und an dem wir unser Verhalten ausrichten können. Sich diesem seelischen Ort, den wir uns erst einmal nicht ausgesucht haben, anzuvertrauen, ihn als Erfahrungsgrund anzuerkennen, das nenne ich Erdung. Ohne Erdung gibt es keine innere Ordnung, und ohne innere Ordnung gibt es keine echte Haltung.
Ich glaube, dass die Forderung nach einer „Haltung“ in ihrer gegenwärtigen Form die Menschen von ihrem Eigensinn fortführt, der für ihr eigenes Leben und für das Gelingen von Gesellschaft existenziell ist. Die „Haltung“ wird so zu einem Ausdruck des Konformismus. Interessant sind deshalb vor allem jene für mich, die es trotz allem schaffen, ihrer sozialen Umwelt gegenüber zurückhaltend aufzutreten, gerade im Interesse ihrer Geistesgegenwart. Ich sehe meine Kinder; wie sie bei sich bleiben, der fordernden Politik, den stolz eine Haltung einnehmenden Altersgenossen und auch den eigenen Eltern zum Trotz. Wie sie ihre Gedanken sammeln, ihre Gefühle ordnen und vorsichtig bleiben, der Welt des Bekenntnisses gegenüber, den allerorten geforderten Zustimmungen und Ablehnungen. Und ich wünsche auch allen anderen jungen Menschen, die ich in ihrer Ausbildung oder im Freundes- oder Familienkreis begleiten darf, dass sie ebendiese Zurückhaltung erlernen und beibehalten. Früh genug werden sie sich äußern, entscheiden, handeln müssen. Und dann brauchen sie alle ihre Sinne, und keine noch so laute und bunte Proklamation wird ihnen dabei helfen.