Das Paria-Prinzip

In meiner Klasse gab es, wie in vielen Schulklassen, einen unbeliebten Mitschüler. Es kamen bei ihm einige Dinge zusammen; eine gewisse Schwerfälligkeit, unattraktive Klamotten, Eltern, die „auf Linie“ waren, ein sonderbares Interesse für die Armee. Eigentlich war er trotz allem ein patenter Kerl, aber das half ihm nicht. Falk galt als stinkend, dumm und widerlich, er war ein wandelndes Schimpfwort.

Ich kann den Moment nicht mehr rekonstruieren, an dem dieser Status nicht mehr zu übersehen war. Jungen aus der Parallelklasse hatten ihn zuvor auf dem Schulhof malträtiert, aber das kann nicht der alleinige Grund gewesen sein, denn auch ich war deren Opfer gewesen, sie hatten mir aufgelauert, mich mit Nadeln gestochen und verprügelt, niemand hatte mir geholfen, aber deshalb war ich dennoch nicht in diese missliche Rolle in meiner eigenen Klasse geraten.

Übrigens hatte mich mein Vater damals rausgehauen, er hatte die Blutergüsse entdeckt und nachgefragt, und am Ende einiger Gespräche und einer polizeilichen Anzeige hatten wir zusammen im Kino gesessen und den ABBA-Film geschaut, und danach war das vorbei gewesen. Ja, der Anführer der Jungen, die mir zugesetzt hatten, hatte sich sogar irgendwann, auch wieder im Kino, neben mich gesetzt und versucht, das ganze wieder in Ordnung zu bringen. Ich hätte meine Eltern nie in meine unangenehme Lage eingeweiht, sie hatten sie selbst freigelegt. Wer immer so etwas erlebt hat, kann sich unschwer vorstellen, dass Kinder auch dann den Mund nicht aufmachen, wenn Sie eigentlich dringend Hilfe brauchen.

Aber zurück zu Falk. Ich weiß noch, wie wir einmal zum Sportstadion gingen und einige aus der Klasse begannen, ihn zu beschimpfen. Du Stinkmorchel, du blödes Schwein. Einige Mädchen gingen so weit, ihn zu treten. Ich weiß noch, dass der Sportlehrer nicht eingriff, und dass auch von jenen Schülern, die Hemmungen hatten, es den anderen gleichzutun, niemand eingriff. Zu diesen Schülern gehörte ich.

Einmal lud mich Falk zu seinem Geburtstag ein, und ich ging nicht hin, weil ich fürchtete, deshalb Nachteile in der Klasse zu erleiden. Ich stand in der Klassenhierarchie recht weit unten, was vor allem mit meinen schlechten sportlichen Leistungen zu tun hatte. Bei der Aufstellung von Mannschaften für Ballspiele konnten sich die besten Schüler ihre Mitspieler aussuchen, ich gehörte immer zu den letzten dreien. Es war gefährlich, noch weiter abzurutschen.

Ulrike gehörte zu jenen, die sich zu Falk ganz normal verhielten. Sie kam aus einer christlichen Familie, und sie war einfach grundanständig. Die Klasse strickte daraus die Legende, die beiden seien ein heimliches Liebespaar. Es war ganz eindeutig, dass die Gruppe versuchte, dem männlichen Aussätzigen einen weiblichen hinzuzugesellen. Das ist aber nicht aufgegangen. Die Versuche, Ulrike in ihrer Stellung in der Klasse zu beschädigen, fruchteten nicht. Sie hatte etwas Unbeirrbares, das den anderen Respekt einflößte.

Geschichten wie diese gibt es nicht aus allen, aber aus sehr vielen Klassen und Zeiten. Jugendliche Gruppendynamik ist etwas Menschliches, und sie ist erbarmungslos. Viele Eltern schauen weg und hoffen einfach, dass ihre Kinder nicht zu den Opfern gehören. Dabei übersehen sie, dass die Ausscheidung eines Unberührbaren auch die in Unfreiheit bringt, die davon verschont bleiben. Nicht nur jene, die man zum ansteckenden Auswurf macht, haben zu leiden, auch alle anderen unterwerfen sich einem grausamen Muster, nach dem über Anerkennung und Nicht-Anerkennung in der Gruppe entschieden wird. Alle anderen Wege, sich in der Gruppe Ansehen zu verschaffen, werden nach und nach verschlossen. Selbst jene, die die Hierarchie anführen, haben fortan in gewisser Hinsicht ein schweres Los, denn sie stehen von früh bis spät in der Zwangslage, ihre Stellung in der Gruppe abzusichern. Wer diese führenden Jugendlichen später als Erwachsene wiedertrifft, staunt manchmal, was für arme Würstchen das sind.

Auch viele Lehrer schauen über diese Probleme hinweg. Zwar wird das so genannte Mobbing inzwischen wenigstens thematisiert und auf einer bestimmten Ebene auch bekämpft, aber die pädagogische Handhabung dieser Angelegenheiten ist bei weitem nicht so sublim wie die jugendlichen Ächtungs- und Anerkennungsmechanismen selbst. Ich habe einmal in einer Klasse unterrichtet, die von zwei Schülern geradezu regiert wurde. Es waren ein Mädchen und ein Junge, die beiden entschieden darüber, ob mitgearbeitet werden durfte, worüber gelacht wurde (und worüber nicht) und wer welche Rechte in der Gruppe hatte. Sprach man die Lehrer darauf an, bekam man zur Antwort, ja, das sei eine schwierige Klasse, da müsse man Geduld haben. Nun ja. Alles geht irgendwann vorbei.

Wenn wir älter werden, versuchen wir diese Erfahrungen zu verdrängen. Sie sind uns peinlich, wir möchten nicht mehr damit konfrontiert werden. Ich war vor fünf Jahren bei einem Klassentreffen. Eines der Mädchen, die Falk damals getreten hatten, stellte fest, wir seien doch eine gute Klasse gewesen. Die anderen stimmten zu. Falk war nicht gekommen, was hätte er hier auch machen sollen? Ich wollte an die Ereignisse mit ihm erinnern, ließ es aber dann.

Ich meine aber doch, dass es sich lohnt, diesen Mechanismen nachzuforschen. Denn wenn wir das Prinzip, dem wir uns als Kinder und Jugendliche meist allzu leicht unterwerfen, weil es sich unserer kleinen, unreifen Persönlichkeiten bemächtigt, nicht wenigstens später benennen und erkennen, dann werden wir ihm auch in der großen Gesellschaft der Erwachsenen weiter ausgeliefert sein. Dieses Prinzip nenne ich das Paria-Prinzip.

Sondert eine Gesellschaft einen Paria oder eine Gruppe von Parias aus, hat dies gravierende Auswirkungen auf ihr Zusammenleben. Man tut damit nicht nur Unrecht an den Ausgestoßenen, man unterwirft sich einem Regelwerk, demzufolge man selbst immer befürchten muss, ausgestoßen zu werden. Der disziplinierende Effekt ist nicht zu überbieten. Gibt es in einer Gruppe auch nur einen einzigen Paria, leben fortan alle anderen in Unfreiheit, denn sie laufen Gefahr, dass auch ihnen die gesellschaftliche Anerkennung entzogen wird; dass ihnen Rechte genommen werden und ihre körperliche Unversehrtheit angetastet wird. Denn der Paria, das ist das Wichtigste an ihm, ist eigentlich kein richtiger Mensch mehr. Mit ihm darf man alles anstellen, er kennt kein Leid und keine Würde. Er ist vogelfrei und niemand wird ihn schützen.

Mit dem Paria darf man nicht zusammenkommen, man sollte nicht mit ihm gesehen werden, nicht neben ihm im Bus sitzen und bei Festen nicht bei ihm am Stehtisch landen.

Mit einem Paria darf man nicht sprechen, und falls doch, dann nur vor Zeugen und mit unübersehbaren Zeichen des Angewidertseins. Denn der Paria ist böse und dumm, und wenn man ihm das schon nicht selbst nachweisen kann, dann gilt es jedenfalls für andere aus seiner Gruppe, von denen man schon gehört hat und an denen man den Befund der Bosheit und der Dummheit festmacht.

Sagt der Paria, dass schönes Wetter ist, dann ist kein schönes Wetter mehr: Man darf einem Paria nie Recht geben, wenn er etwas sagt, das alle betrifft.

Hat der Paria unübersehbar recht, und man muss es zugeben, dann muss man sich so ausdrücken, dass hier offenbar ein Handlungsbedarf besteht, weil sonst der Paria Recht oder Zulauf bekäme, und das dürfe nicht sein.

Hat die Gesellschaft es zugelassen, dass es Parias gibt, lässt die geistige Leistungsfähigkeit der betroffenen Menschen rapide nach, denn sie meiden das eigenständige Denken, sie fürchten, dass dieses Denken sie in die Nähe der Parias bringen könnte. Sie beteuern von früh bis spät, dass sie nichts mit den Parias zu tun haben, und sie meiden alle Berührungspunkte. Deshalb ist ein gesellschaftliches Gespräch, also ein solches, das auf die Diskurse bezogen ist, mit Menschen, die dem Paria-Prinzip anheimgefallen sind, nur in sehr eingeschränktem Maße möglich. Und da dieses Prinzip wenig Rücksicht auf die Unverletzlichkeit der Privatsphäre nimmt, gibt es auch zusehends weniger Möglichkeiten, ein gutes persönliches Gespräch mit diesen Menschen zu führen. Von jenen, die das Paria-Prinzip über sich herrschen lassen, ist keine Verbesserung dieser Verhältnisse zu erwarten, im Gegenteil, mit allem, was sie in dieser Angelegenheit tun und sagen, machen sie die Dinge schlimmer, selbst wenn sie ansonsten nette Leute sind.

Das lenkt den Blick auf die Parias. Wie verhalten sie sich nun, da sie einmal ausgestoßen sind? Ich denke, sie haben im Großen und Ganzen drei Möglichkeiten.

Die erste und naheliegendste ist es, zu versuchen, in die Gesellschaft zurückzukehren, indem man sich ihrem Machtmechanismus unterwirft und irgendwie versucht, wieder nach oben zu kommen. Diese Strategie gelingt selten, da das etablierte Herrschaftsprinzip ja auf den Paria angewiesen ist. Die einzige Möglichkeit scheint darin zu bestehen, andere Menschen in die Rolle des Parias zu bringen, sich also durch Denunziation aus seiner unangenehmen Rolle zu befreien. Das kann funktionieren, aber nicht immer ist die Macht so flexibel, ihre Parias auszutauschen. Außerdem muss es sich für die Herrschenden lohnen, aus der Unterwerfung und Ächtung anderer einen noch größeren Gewinn zu erzielen denn aus der Ächtung des bisherigen Parias. Im Grunde genommen ist diese Strategie ein Spiel auf Leben und Tod, denn wenn die Parias austauschbar sind, können sie auch gleich vernichtet werden, bevor man die nächsten ausstößt. So lief es zum Beispiel im Stalinismus.

Die zweite Strategie besteht darin, dem Bild des Parias zu entsprechen und all das Hässliche, das einem unterstellt wird, eigentlich nun erst auszubilden. Diese Reaktion kann sogar mit Lustgewinn erfolgen. Der Genuss des Ekels und des Erschreckens der anderen kann für den Paria eine Erleichterung bringen, ja, er sichert zuweilen seine Existenz, da sich die Herrschaft durch ein dauerhaftes Arrangement mit Paria stabilisiert, diese ihn also nicht ganz zugrunde gehen lässt. Aber letztlich bestätigt der Paria in diesem Fall durch sein Verhalten das Prinzip seiner Ausstoßung und deshalb ist die Genugtuung des Parias von zweifelhaftem Gewinn.

Die dritte Strategie besteht darin, im Moment der Demütigung seine eigene Würde zu behaupten, sie vielleicht sogar nun erst richtig zu entdecken, und ihr gerade in dieser Bedrängnis den rechten Grund und Halt zu geben. So entstehen Unbeirrbarkeit über die Richtschnur des eigenen Handelns, Unabhängigkeit gegenüber der herrschenden Macht und eine über das bloße Durchkommen hinausweisende Perspektive. Dieser Weg ist für die Betroffenen schmerzhaft und oftmals sogar tödlich, aber er ist gesellschaftlich ungeheuer wirksam, denn es steckt eine Schönheit darin, an der sich wiederum andere aufrichten können. Vielleicht zuerst und mit großer Kraft ist diese Perspektive von Jesus Christus eröffnet worden – und viele haben später ähnlich gehandelt. Dieser Weg des Verzichts auf die Anerkennung der anderen bei gleichzeitiger Anerkennung einer größeren Einsicht, an der man nur teilhaben, über die man aber nicht verfügen kann, bringt die Herrschaftsverhältnisse mitunter schnell und grundlegend zum Einsturz, und er ist auch noch in späteren Zeiten wahrnehmbar und inspirierend. Aber er fordert den Betroffenen eben auch sehr viel ab.

Bleibt abschließend die Frage nach jenen, die selbst noch nicht zum Paria geworden sind, aber das Herrschaftsprinzip dennoch durchschauen und sich ihm nicht beugen wollen. Dass sie ihre gesellschaftliche Stellung nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sind sie ihren Familien oder anderen Menschen oder Lebensbereichen schuldig, für die sie Verantwortung übernommen haben. Aber dennoch müssen sie sich täglich fragen, ob ihr Verhalten eigentlich zu rechtfertigen ist. Alles, was sie tun und sagen, steht auf dem Prüfstand, jeden Tag. Denn eigentlich verdient der Paria ihre Solidarität, selbst wenn er sich für eine hässliche Fratze entschieden hat. Sie müssen täglich abwägen, ob sie selbst zum Paria werden oder besser weiter in ihrer Position ausharren sollten. Aus dieser Ambivalenz entwickeln die Betroffenen gespannte Sinne, vorausschauendes Denken und sprachliche Feinheit. Viele Menschen haben diese Erfahrung in der DDR gemacht und ihr erworbenes Wissen bewahrt. Manche ihrer westdeutschen Mitmenschen kommen ihnen wegen des Fehlens dieser Erfahrung einfältig vor. Darüber soll hier nicht geurteilt werden. Aber wie dem auch sei, letztlich haben auch jene, die das Paria-Prinzip als ein Rollenmodell der Herrschaft durschauen, die Möglichkeit, eine Veränderung herbeizuführen. Allein die Tatsache, dass sie die andauernde Ächtung und Schmähung, Dämonisierung und Demütigung nicht mitmachen, wird täglich auffallender. Ihre zunehmende Sichtbarkeit zwingt sie dazu, die eigenen Worte als Handeln zu verstehen. Auch auf diese Weise kann die Herrschaft des Paria-Prinzips enden.

Jene also, die einst als Kinder Hemmungen hatten, einen Paria zu quälen, müssen erwachsen werden. Sie müssen in ihrer einstigen Schwäche eine Stärke entdecken; die, nicht dazugehören zu müssen. Der Rest ist ein Gang von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde.

Kenneth Anders
k.anders@oderbruchpavillon.de

studierte Kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Leipzig und Berlin und fand den Einstieg in die Landschaftsthematik durch die Gestaltung einer Ausstellung über die Entstehung der Naturschutzeule in Bad Freienwalde am Haus der Naturpflege. 2004 gründete er mit Lars Fischer das Büro für Landschaftskommunikation. Kenneth Anders ist außerdem als Autor und Sprecher tätig.