REDEN 07_Reden oder Zuhören

Gewählt ist dieses Thema. Dieses Thema geht von einer Person aus, die ich das Individuum nennen möchte. Das Individuum möchte sprechen. Damit das Individuum sich mit seiner Sprache aber entfalten kann, benötigt dieses Individuum auch ein zweites Individuum, welches dieser Sprache zuhört. Die Frage ist also nur einseitig oder nur in eine Richtung gefasst, sie ist aus Sicht des zweiten Individuums ganz anders zu fassen, Zuhören, wem und wozu. Das eröffnet die eigentliche Kernfrage viel besser. Das Reden ist heute auch zu einem Beruf geworden, das sind die Speaker. Unter meinen Mandanten ist ein heute in Deutschland gewichtiger Speaker, der seinen Mandanten, die er Kunden nennt, das Reden beibringt, das Reden auf offener Bühne vor einem Publikum, das seinerseits Zuhören soll. Die Bedingung an die Rede des ersten Individuums ist so gestaltet, dass sie dem zweiten Individuum, hier also dem Publikum als einer Gruppe von zweiten Individuen, nicht nur gefallen, sondern diese auch zumindest 15 Minuten lang so fesselt, dass sie zuzuhören geneigt sind, ohne sich aktiv in das einseitige Gespräch des Speakers einzumischen.

Die Natur des Menschen liegt darin, selber zu sprechen, sich mitzuteilen, und die Zurückhaltung, selber nicht zu sprechen, sondern zuzuhören ist eine viel größere Aufgabe, als selber zu sprechen. Ich kann das vergleichen mit dem Auto fahren. Du kannst gut autofahren, hervorragend. Was aber gewichtiger ist, kannst du gut Beifahren, also mitfahren, ohne das Lenkrad zu halten. Das ist eine viel schwierige Aufgabe. Du wirst dich während der Fahrt immer wieder dabei ertappen, dass du mit den Füßen gegen den Boden deines Fußraums trittst oder zusammenzuckst, wenn eine Reaktion des Fahrers nicht derjenigen Reaktionen und den Zeitpunkt seiner Reaktion entspricht, die du selbst gestaltet hättest, wenn du fahren würdest. In gleicher Weise lässt sich es sich auf den Redner und den Zuhörer übertragen. Sagen wir so, die Frage ist aus der anderen Richtung besser gestellt, zuhören ist eine Kunst, reden zwar auch, aber eine nicht zu schwierige Kunst, wie diejenigen, des aufmerksamen Zuhörens. Dandapani hat sich zur beruflichen Aufgabe gemacht, Menschen dazu zu motivieren, sich zu fokussieren. Er geht davon aus:

Each minute of my life is precious to me. I’ve experienced a few times when the person I’m with picks up their phone during a conversation to check a text message or answer a call. To me, this is plain rude. If I’m taking time out of my life to spend time with you, then I expect your undivided attention as well. I have one life, not two or nine, and I have a life clock that’s ticking away.

Dieses “undivided attention” ist der Wert der Welt. Der Wert des Miteinanders und der Wert des Schätzens des Anderen. Eine solche ungeteilte Aufmerksamkeit (die etwas schwerfällige deutsche Übersetzung des englischen Begriffs) kann sich nur durch Zuhören manifestieren. Während A selber redet kann A nicht sein mobile phone annehmen. Während B zuhört schon. Dadurch bekommt das erste Individuum A zu spüren, dass es etwas Wichtigeres gibt als die Rede oder Ansprache des ersten Individuums. Das zweite Individuum zeigt in der Analyse von Dandapani Ungehörigkeit, Gemeinheit oder Unverschämtheit (being plain rude). Der Wert eines Gesprächs zwischen zwei Individuen liegt im Schwerpunkt also auf dem Individuum, welches zuhört, welches seine begrenzte Zeit gibt, dem anderen Individuum zuzuhören. Der deutsche Ausdruck Reden ist Silber, Schweigen ist Gold sagt das nur zur Hälfte, weil derjenige, der schweigt, zuhört. Das sagt dieser Satz aber nicht, das impliziert er allenfalls. Reden ist also nicht Gold, sondern Zuhören ist Gold. Der Goldstandard des Lebens.

P.S. Der Text reagiert auf diesen Aufruf von Ulrike Meier und Kenneth Anders.

Frank Leonhard
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