Mit Passierschein in den Wald – Über die Gefährdung der bürgerlichen Öffentlichkeit

Die Deutschen haben es mit dem Wald. Der Wald beschäftigt uns und gibt immer wieder Anlass zu Streit und Sorge. Viele erinnern sich an das Waldsterben der achtziger Jahre, das dann zwar so nicht eintrat, aber die Aufregung war schlimm. Nun wird ein neues Waldsterben eingeläutet, dieses Mal verdurstet der Wald und wird zum Opfer des Klimawandels. Viele Menschen fordern, der Wald solle Wildnis werden, nur so könne er überleben. Andere ärgern sich darüber, dass selbst der Wirtschaftswald nicht mehr gepflegt wird. Die Wege leiden unter den schweren Rücke- und Transportfahrzeugen und nach einem Einschlag lässt man die Zopfenden sogar auf den Wegen liegen. Früher wurde das wenige Holz, das man nicht nutzen konnte, säuberlich aufgeschichtet. Einige sagen, das sei Geschmackssache. Andere verweisen darauf, dass ein Wald heute nach der Holzernte oft nicht mehr betretbar ist. Er wird zu einem gefährlichen Gelände, das Fußgänger auf geradezu feindselige Weise abweist.

Der Wald als öffentlicher Raum

Man könnte in diese Aufmerksamkeit für den Wald viel hineingeheimnissen, etwa eine besondere geschichtliche Bindung der Deutschen an ihre Wälder, immerhin haben wir unter Bäumen die Römer geschlagen. Aber ich glaube, mit germanischer Frühzeit und nationaler Waldmythologie hat das Ganze wenig zu tun. Das Entscheidende am Wald in Deutschland ist vielmehr, dass er öffentlicher Raum ist. Jeder Bürger darf ihn betreten, ganz gleich, wem er gehört – einem privaten Waldbesitzer, dem Staat, der Kirche oder einer Kommune. Wer den Wald betritt, muss sich an ein paar Regeln halten, er darf zum Beispiel kein Feuer machen. Aber er ist dem Waldbesitzer keine Rechenschaft darüber schuldig, was er hier zu suchen hat. Wir können Pilze sammeln oder es lassen, wir dürfen auch einfach so herumstehen und uns in der Nase bohren, das geht keinen was an. Und eben dieses Recht wird in zunehmendem Maße eingeschränkt. Die Wirtschaftswälder sind vielerorts faktisch unbetretbar, während der Zutritt in viele Naturschutzwälder unter Strafe gestellt wird. Die Zäunungen gegen den Verbiss von jungen Laubbäumen sind gut begründet, aber auch sie werden mancherorts zu unüberwindlichen Barrieren für die Fußgänger. Ich kenne private Waldbesitzer, die noch zusätzliche Hürden errichten, indem sie Baumstämme quer über die Wege legen. Sie haben dafür oft gute Gründe, denn immer wieder hinterlassen Menschen Müll oder fahren mit ihren Autos in den Wald, und durch Trendsportarten oder durch Reiter hat die Beanspruchung der Wälder zugenommen.

Die Freiheit des Querfeldein-Gehens

Ich sage also nicht, dass hier böse Menschen am Werk sind. Das gesellschaftliche Gefüge verändert sich, und viele Kräfte wirken daran mit. Wer zum Beispiel in England oder den USA querfeldein unterwegs ist, wird auf Wälder stoßen, die man wirklich nicht mehr betreten darf. Sie sind privat, genauso wie viele Seen, in denen man nicht so einfach baden gehen kann. Die Landschaft verliert ihren öffentlichen Charakter. Sie wird in private Bereiche eingeteilt oder privilegierten Nutzungen zugeordnet. Die verschwindenden Feldwege erzählen die gleiche Geschichte. Man ist heute meist mit dem Auto oder dem Fahrrad unterwegs – oder man ist gar nicht unterwegs. Aber das Zu-Fuß-Gehen ist etwas gänzlich anderes als das Fahren. Als Fußgänger muss man nirgendwohin wollen, man ist draußen, als ganzer Mensch, man kann sich umschauen und jederzeit die Richtung wechseln. Man kann miteinander sprechen und steht als einzelnes Subjekt in der ganzen Welt, unter dem großen Himmel. Fährt man dagegen, womit auch immer, tut man dies zur Erreichung eines Ziels oder zur körperlichen Betätigung. Der Raum wird überwunden und wir werden zu Pfeilen oder Vektoren in seiner Ausdehnung.

Die Segregation der Landschaft

Seit zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit der Segregation des Raums. Viele Landschaften degenerieren zu Betriebsflächen, in denen eine Maximierung des jeweiligen Betriebsziels erreicht wird. Sie verlieren ihren öffentlichen Charakter. Statt verschiedene Aneignungen zu arrangieren, wird eine Aneignung privilegiert. Das gab es früher nur beim Berg- und Tagebau, wo es zu gefährlich war, die Kinder spielen zu lassen. Später kamen die Truppenübungsplätze dazu, dann die ersten Naturschutzgebiete – betreten verboten! Heute haben wir Logistikzonen, Tourismusoasen, Wildnisse, Gewerbe- und Wohngebiete. Man kann sie unter Umständen durchqueren, aber man kann sich in ihnen nicht aufhalten ohne legitimierenden Grund. Ich frage mich, wie sich eine Demokratie entwickeln soll, in der der Raum nicht mehr ein gemeinsam geteilter Raum ist, sondern in dem geteilt und geherrscht wird. Eine solche Feudalisierung, so sage ich mir, lässt dem menschlichen Subjekt nur noch Spielraum für je genau definierte Teilfunktionen. Hier darfst du dich vergnügen, dort darfst du wohnen, da darfst du arbeiten. Der Film „Triptiek“ von Jan Ketelaars and Paul van den Wildenberg dokumentiert diese Veränderungen für die Niederlande. Vor zehn Jahren zeigten wir diese nüchterne und manchmal sogar witzige Dokumentation bei der Provinziale in Eberswalde. Er ist meine persönliche Dystopie, denn man sieht in ihm, dass sogar die Körperbewegungen der Menschen durch die Räume synchronisiert werden. Es ist das Gegenteil der kommunistischen Utopie des marxistischen Ästhetikers Lothar Kühne, der einst schrieb, in einer befreiten Gesellschaft müssten die für unser Leben relevanten Raumsphären „sinnlich erlebbar, praktisch ohne ein besonders einzusetzendes Verkehrsmittel … durch Gehen erschließbar“ sein. Alles, was uns determiniert und bedingt sollte uns sinnlich verfügbar bleiben, damit wir es verstehen und uns aneignen können.

Ich frage mich auch, wie wir Menschen in einer fragmentierten Welt ein welthaltiges Urteilsvermögen erlangen sollen. Wie soll das gehen – wenn wir selbst nie als Ganze im Raum sein dürfen, sondern immer nur als zahlende, arbeitende, einkaufende, Fitness treibende oder was auch immer durchführende Subjekte? Werden wir dann nicht Objekte des jeweiligen Funktionszusammenhangs? Ich bin der Überzeugung, dass die schlechte Qualität unserer Umwelt- und Landnutzungsdiskurse ganz eng mit der Tatsache zusammenhängt, dass viele Leute die meisten Teile der Praxis, der sie als Konsumierende nun einmal angehören, schlicht und ergreifend nicht kennen. Sie haben diese Welten entweder nie oder nur durch dir Filter der Medien erlebt. Und werden dadurch manipulierbar.

Das Verschwinden der öffentlichen Räume in Stadt und Dorf

Man könnte sagen, dann ist das eben so mit der Landschaft, dafür haben wir ja aber die Dörfer und Städte, die noch als multifunktionale, als öffentliche Räume angelegt sind. Damit ist zwar dem Agrardiskurs und dem Walddiskurs und dem Klimadiskurs nicht geholfen, aber immerhin kann sich die Gesellschaft noch als solche erfahren. Aber hier vollzieht sich in meinen Augen der gleiche Strukturwandel. Viele Dörfer werden zu Wohngebieten, in denen alles stört, was nicht Wohnen ist. Und auch in den Städten vollzieht sich ein schleichender Prozess. Die Bahnhöfe und Plätze werden zu Shopping Malls, der private und der öffentliche Raum gleichen sich an. Während es noch in meiner Kindheit viele undefinierte Flächen in den Städten gab, die ungeplanten Aneignungen offenstanden, ist heute jeder Quadratmeter definiert. Die Städte sehen immer mehr wie große Stadtpläne aus. Hier darfst du dieses, dort jenes.

Kultur als Form der Öffentlichkeit und ihre Gefährdung durch die neuen 3g-Regeln

In so einer Situation ist es in meinen Augen sehr wichtig, dass der freie Zutritt zu den letzten wirklich öffentlichen Bereichen der Gesellschaft nicht eingeschränkt wird. Das betrifft vor allem die Kultur und den Sport. Die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit besteht darin, dass sie jedem Menschen offensteht. Der Zutritt zu ihr darf nicht von Prüfungen abhängig gemacht werden. Das ist ein ganz einfacher und elementarer Zusammenhang, der überhaupt erst die Wirkungsweise dieser sozialen Form ermöglicht. Schon der kleinste Eingriff in dieses Prinzip ist in meinen Augen für unsere Demokratie gefährlich. Denn wenn auch nur einer Person der Zutritt zur Öffentlichkeit (jenseits der Restriktionen des Strafrechts natürlich) verwehrt wird, hat dies sofort Auswirkungen auf das Verhalten jener, die diesen Zutritt noch genießen. Sie müssen fürchten, ebenfalls ausgeschlossen zu werden und fangen also an, ihr Verhalten an allen möglichen Koordinaten auszurichten.

Das erleben wir seit einiger Zeit in der öffentlichen Sprache, die, in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gekannten Ausmaß, der gesellschaftlichen Kontrolle unterliegt, weil man fürchten muss, bei Verstößen gegen behauptete Konventionen ausgestoßen zu werden. Es betrifft nun aber auch in zunehmendem Maße Personen-, Gesundheits- oder Kontodaten. Durch die Smartphones ist es sehr leicht geworden, alle drei Bereiche miteinander zu verknüpfen. Die Internetkonzerne und der chinesische Staat haben es vorgemacht, nun schickt sich unsere Politik, an, es durch die Etablierung des digitalen Gesundheitspasses nachzumachen.

Öffentlich finanzierte Kultur ist öffentliche Kultur. Der Zugang zu ihr wird in vielen Fällen durch die Erhebung von Eintritten limitiert – dies ist oft unvermeidlich und gut begründet, aber es ist auch ein Problem, das viele Veranstalter erkannt haben, die ihre Arbeit in den Dienst der demokratischen Öffentlichkeit stellen wollen. Die Veranstaltungsreihe „Guten Morgen Eberswalde“ zum Beispiel ist als eine Art Basis-Kultur angelegt, die keinerlei Beschränkungen unterliegt, also auch keine Eintritte verlangt. Der Zutritt ist für alle Menschen frei. Auf dieser Basis können anspruchsvollere Formate gedeihen, die dann auch Eintritt kosten. Aber der Eintritt – das ist die Idee – muss die einzige und letzte Restriktion sein. Werden noch weitere Einschränkungen vorgenommen, verletzte dies die Öffentlichkeit der Veranstaltung. Sie würde zu einer Veranstaltung, die nur für Menschen offensteht, die eine zusätzliche Voraussetzung erfüllen – und dann doch eine, und noch eine.

Aus diesem Grund muss ich die politische Durchsetzung der 3-G-Regeln, nach denen man nur getestet, genesen oder geimpft Veranstaltungen oder bestimmte Räume aufsuchen darf, ablehnen. Mir scheint, jene, die diese Regeln als unvermeidliche Konsequenz behandeln, wissen nicht, welchen Schaden sie damit anrichten. Fast muss man hoffen, dass sie es nur nicht wissen. Was allerdings schwer zu begreifen ist.

19. August 2021

Kenneth Anders
k.anders@oderbruchpavillon.de

studierte Kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Leipzig und Berlin und fand den Einstieg in die Landschaftsthematik durch die Gestaltung einer Ausstellung über die Entstehung der Naturschutzeule in Bad Freienwalde am Haus der Naturpflege. 2004 gründete er mit Lars Fischer das Büro für Landschaftskommunikation. Kenneth Anders ist außerdem als Autor und Sprecher tätig.