15 Jun Die Wucht des Zweifels. Michael Niemis Roman »Wie man einen Bären kocht«
Wir sind wieder in Pajala. Zwanzig Jahre, nachdem Matti und Niila hier in „Populärmusik aus Vittula“ den Rock ´n Roll entdeckt haben, finden wir uns am selben Ort wieder, dieses Mal aber mitten im neunzehnten Jahrhundert, zwischen Armut, Alkohol, Gewalt und Angst, aber auch umgeben vom religiösem Erweckungsgeist, wissenschaftlicher Aufklärung und künstlerischer Emphase.
Im Mittelpunkt stehen ein Probst und sein Ziehkind Jussi, ein Junge aus einer zerrütteten samischen Familie, der in dessen Obhut Lesen, Schreiben und Selbstachtung erlernt. Was sich zunächst wie ein protestantischer Bildungsroman anlässt, wandelt sich nach kurzer Zeit in einen Kriminalfall, dessen Spannung, wie es gute Krimis so an sich haben, auch Genuss bereitet. Allerdings kriecht etwas Dunkles in der Geschichte herum, von dem bald klar wird, dass es sich mit den Mitteln eines Kriminalromans nicht wird einfangen lassen. Das liegt nicht nur an den bemitleidenswerten drei Mordopfern. Es wächst schon in der martialischen Hinschlachtung einer Bärin heran, die als wildes Monster für den ersten Mord verantwortlich gemacht wird. Es bekommt dann Tiefe in der religiösen Ahnung des Teufels, der man sich schlecht entziehen kann, da die Ereignisse und ihre Verkettung tatsächlich kaum anders als teuflisch genannt werden können. Die Barmherzigkeit des Probstes bekommt einen bedrohlichen Gegenspieler, die alles, woran man sich in der Geschichte festhalten möchte, infrage stellt.
Das grobe Versagen der öffentlichen Ordnung in der Aufklärung der Verbrechen versetzt einem als Leser den nächsten Schlag, es kommt in Niemis Schilderung mit einer überheblichen reichsschwedischen Haltung daher, die mit den Menschen dort im Norden einfach nichts anzufangen weiß und sie durch habituell programmiertes Missverstehen und wissenschaftliche Arroganz in schweres Leid stürzt. In diesem Milieu gedeiht die Aberkennung menschlicher Würde, ein Vorgang, in den Niemi den Leser auf geschickte Weise verwickelt: Die Hingabe Jussis für ein angebetetes Mädchen im Dorf hat etwas Verstörendes, man ist auf das Vertrauen und Verstehen des Probstes angewiesen, um schließlich auch Jussi über den Weg zu trauen. Dieser ist durch die Aufnahme im Haus des Probstes und durch das Erlernen der Schrift überhaupt erst als Mensch geboren worden. Aber er wird dennoch schließlich von seinem Ziehvater nicht als Christ Abschied nehmen können.
Der Probst geht die Ereignisse mit kriminalistischen Methoden an, er sammelt Indizien: Fingerabdrücke, Bleistiftspäne, Pflanzen und Haare und kommt dem Täter tatsächlich immer näher. Aber spätestens als Jussi brutal zusammengeschlagen und verstümmelt wird und sich die Ereignisse überschlagen, fragt sich der Probst, ob ihn hier nicht die intellektuelle Eitelkeit zu einer grandiosen Selbstüberschätzung getrieben hat.
Viel lässt sich über diesen Roman sagen und nachdenken, der mit einer ernsthaften Wucht daherkommt wie eine Ohrfeige und in dem Niemis Humor nur noch als ein schwacher Hauch weht. Beinahe erleichtert stößt man auf bekannte Elemente seiner früheren Bücher, die Orte, die Höfe, der Wald, die Fische – und die Kartoffeln mit Butter, seine große kulinarische Liebe, die nicht einmal im fulminanten Science-Fiction „Das Loch in der Schwarte“ fehlen durfte. Genau diese Elemente weisen einem auch einen Weg durch all die Verwirrung, die der Roman stiftet, denn sie bilden das räumliche Koordinatensystem, in dem sich der Erzähler bewegt und in dem er erzählerische Fahrt gewinnt. Wie kaum ein anderer Autor der Gegenwart entwickelt Mikael Niemi literarische Kraft durch die Tiefe seines Eintauchens in seinen eigenen, vertraut-rätselhaften Raum. Die Welt mag groß sein, aber Pajala ist größer.
btb, München, 2020