Corona auf dem Land

Die Corona-Politik verdankte sich nicht zuletzt einer Entmündigung der kommunalen Handlungsebenen. Kommunale Aufgaben wurden zu Experimentierfeldern eines gesundheitspolitischen Großversuchs. Globale Datenverwaltung, erfahrungsferne Modellierungen und medialer Daueralarm bestimmten das Geschehen, Gesundheitslage und medizinische Kapazitäten vor Ort spielten dagegen so gut wie keine Rolle. Wer diese Umkehrung kritisierte, wurde bekämpft. Vor diesem Hintergrund ist die Frage geboten, wie abseits jenseits der Ballungsräume auf die Corona-Politik reagiert wurde; in der Provinz. Die Dynamik eskalierender Großdiskurse könnte hier durch persönliche Interaktion und direkte Erfahrung geschwächt worden sein. Haben die ländlichen oder kleinstädtische Gesellschaften anders reagiert als die großen Stadtgesellschaften?

Meine Corona-Geschichte hat sich in der Provinz zugetragen. Ich lebe in Ostbrandenburg und mache öffentliche Kultur, meine Arbeitsbeziehungen zur Kommunalpolitik sind vielfältig. Als 2020 der Corona-Ausnahmezustand begann, war mir unwohl. Ich empfand ein Misstrauen gegen den alarmistischen Gleichklang, den ich wie eine Mobilmachung empfand. Ich begann zu lesen, bald auch selbst zu schreiben und auf Blogs zu veröffentlichen. Seit 2021 suchte ich viele Menschen auf oder schrieb jene an, mit denen ich in beruflichen Beziehungen stand, um allen zu sagen: Es wird ein Problem geben, mit mir und den Verhältnissen, die sich hier zuspitzen, ich möchte, dass ihr das wisst. Ich werde nicht die Impfpässe der Besucher meiner Kulturveranstaltungen kontrollieren, ich möchte keine Maskenpflicht durchsetzen, und eine Bestuhlung im Schachbrettmuster beleidigt meine Vernunft. Wie immer ihr das seht, ihr solltet wissen, dass der Moment kommen könnte, in dem ihr euch überlegen müsst, wie ihr eure Arbeitsbeziehung zu mir gestaltet oder gar rechtfertigt.

So wie mir ging es vielen meiner Kollegen und Partner, und bald wurde es tatsächlich kompliziert. Während meine publizistische Tätigkeit weitgehend unkommentiert blieb, geriet die Durchführung öffentlicher Kulturformate zusehends zu einem Balanceakt für alle Beteiligten. Ein Filmfest richteten wir unter freiem Himmel aus, obwohl es bereits Oktober und teilweise bitter kalt war, denn wir wollten keine gesundheitspolizeilichen Kontrollen unserer Besucher vornehmen. Als im November 2021 in Brandenburg 2G-Regeln für die Kultur erlassen wurden, verzichteten wir dagegen auf öffentliche Kulturangebote. Die Idee öffentlicher Kultur besteht ja gerade darin, dass jedermann Zutritt zu ihr hat. Ich erntete damals manches Stirnrunzeln, aber letztlich wurden diese Entscheidungen hingenommen und von vielen Verantwortlichen stillschweigend mitgetragen.

Im Januar 2022 kam es allerdings zu einer Zäsur, denn ich hielt in meiner Kleinstadt eine Rede auf einer Demonstration gegen die herrschende Corona-Politik. Spätestens jetzt stand auch mein eigenes berufliches Schicksal auf Messers Schneide. Die Lokalzeitung rahmte mein Auftreten mit Beobachtungen einer „Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt“ in Strausberg, der zuständige Journalist fragte bei den Kommunalpolitkern an, ob ich nun als öffentlicher Kulturakteur noch tragbar sei. Tagelang erreichten mich Emails und Nachrichten, die einen bedankten sich, die anderen gaben sich „fassungslos“, mache kündigten mir die Zusammenarbeit, mit den bekannten Anwürfen: gemeinsame Sache mit rechts, dumm, verantwortungslos, naiv. Bis heute schauen manche dieser Menschen beiseite, wenn sie mir begegnen. Andere ließen sich dagegen auf Gespräche ein, die zwar kein Einvernehmen herstellten, aber doch immerhin gewährleisteten, dass wir uns inzwischen wieder unbefangen begegnen können.

Heute, mit fast einem Jahr Abstand, kann ich sagen: Die Sache hat einen guten Verlauf genommen, für mich jedenfalls. Ich habe meine Arbeit behalten und bin in meinem Umfeld letztlich nicht zu einer Unperson geworden. Auch lehnte es unsere Landkreisverwaltung ausdrücklich ab, die Demonstrationen gegen die Corona-Politik zu kriminalisieren und aus einem Verhalten, das nach damaliger Lage der Dinge ein Verstoß gegen die Eindämmungsverordnung bedeutete (etwa der gemeinsame Aufenthalt im Freien bei geringem Abstand ohne Maske) einen Straftatbestand zu basteln. Daran hat vor allem der Landrat meines Landkreises erheblichen Anteil – und mit ihm viele Kommunalpolitiker in meiner Region. Denn diese Verantwortlichen behielten ihre gewachsenen Umgangsformen mit den Bürgern in ihrer Region weitgehend bei. Natürlich setzten die Verwaltungen die Verordnungen um, aber sie taten es mit Augenmaß und Zurückhaltung. Mir persönlich hielten sie in einer großen Spannungssituation den Rücken frei. Damals laut werdende Forderungen, die Zusammenarbeit mit mir zu beenden, wiesen Sie nüchtern und mit dem Hinweis zurück, es sei nicht ihre Aufgabe, in eine öffentliche Debatte einzugreifen, die nun einmal stattfinden müsse.

Aber ist diese Erfahrung übertragbar? Das will man gerne glauben. Sofort möchte ich ins Feld führen, dass das ländliche Urteilsvermögen im Vergleich zu den Städten mehr Distanz zur Medienwirklichkeit schafft, eben weil man häufiger mit Menschen anderer sozialer Prägung zu tun hat, oder weil man nicht nur im Büro sitzt, sondern auch draußen auf dem Acker ist, in der Werkstatt oder im Wald. Weil der vertikale Blick auf das, was von oben durchgestellt wird, immer ergänzt wird durch einen horizontalen Blick auf den Nachbarn und die Umstände des Alltags. Weil die Leute auf dem Land vielleicht weniger Angst haben und mehr Selbstverantwortung tragen müssen. Hysterie, Anmaßung und Autoritarismus stoßen auf gewisse Bremswirkungen. Und in vielen Fällen lässt sich das auch zeigen.

Aber dass es ein durchgehender Vorzug der Provinz ist, das lässt sich wohl nicht behaupten. Es gibt ländliche Gegenden, in denen sich ganz andere Geschichten abgespielt haben. Da sind die Fälle von Denunziation und behördlicher Anmaßung, die zuweilen gerade in der Provinz noch verstörender wirken als in den Großstädten, weil dort, wo nur wenige miteinander leben, immer noch eine persönliche Dimension im Spiel ist, der konkrete Verstoß gegen einfache Formen der Mitmenschlichkeit. Da sind auch die Heime und Krankenhäuser, in denen bis heute unbarmherzige Regeln exekutiert werden, ganz unabhängig von ihrer geografischen und demografischen Lage. Da ist das Versagen der Kirchen, das offenbar unabhängig von der Bevölkerungsstruktur tiefschwarze Blüten trieb, welche dem Evangelium Hohn sprechen. All das gab es ebenso und, nicht weniger bodenlos, auch in der Provinz. So einfach lässt sich der Bogen zwischen Provinz und Vernunft also nicht schlagen.

Und doch, so scheint es mir, sind die Möglichkeiten, gemeinsam aus solchen Ereignissen zu lernen, in der Provinz sehr groß, weil hier alles eine persönliche Dimension hat, weil jedes Wort letztlich als Handlung erfahren wird. Meine ländliche Gesellschaft geht vielleicht sogar gestärkt aus dieser Zeit hervor. Während man das Thema Corona andernorts nicht diskutiert hat und nun verschämt zu den Akten legt, ist hier miteinander gesprochen worden. Auch heute, angesichts der neuen politischen Belastungen sind viele Menschen miteinander im Austausch geblieben. Das verdankt sich persönlicher Kenntnis und räumlicher Nähe und der daraus erwachsenden Verbindlichkeit. In den täglichen Umgangsformen stecken Wissen und Erfahrungen davon, worauf es beim Zusammenleben ankommt. Es gibt Dinge, die sollten auch im Krisenfall gelten: Man macht den anderen nicht zum Paria, auch wenn es einem in der Tagesschau so empfohlen wird. Diese Leitplanken eines integren öffentlichen Verhaltens zählen in wenig segregierten Gesellschaften immer noch viel – und wo gegen sie verstoßen wird (und das gab es natürlich auch hier), ist es für jedermann wahrnehmbar und lehrreich.

Die in meiner Region eher zurückhaltende und nicht eskalierende Handhabung des Corona-Regimes durch die kommunalen Verwaltungen hatte nur wenig damit zu tun, wie die einzelnen Verantwortlichen die realen Gefahren und die Wirksamkeit der verordneten Maßnahmen einschätzten. Sie verdankt sich vielmehr Formen des persönlichen Umgangs, deren Fliehkraft eine Orientierung bietet. Ein Grundschuldirektor in meiner Region hat es abgelehnt, kleinen Kindern im Unterricht Masken aufzusetzen, denn die Kinder bräuchten die freien Gesichter der anderen, um sich zu verständigen. Wie er ganz allgemein über Corona dachte? Ich habe keine Ahnung. Aber für diesen Mut bin ich ihm dankbar, und er hätte ihn wohl kaum aufgebracht, wenn ihm das eine Karriere als Corona-Leugner eingebracht hätte. Und eben das musste er in diesem Umfeld nicht fürchten.

Eine gelingende Demokratie beweist sich dort, wo nicht von heute auf morgen alle Uhren umgestellt und gemeinsam erworbene Maßstäbe der Menschlichkeit über Bord geworfen werden. Das soziale Gelingen oder das Versagen, beides tritt nirgendwo deutlicher zutage als dort, wo du und ich sich gegenüberstehen, sich die Hand geben oder nicht, sich in die Augen schauen oder nicht, sich die Wahrheit sagen oder sich anlügen. Und eben aus dieser Erfahrung heraus erwächst letztlich auch die Evidenz und Glaubwürdigkeit von Politik – und nicht aus Podcasts oder Modellrechnungen.

Was tun also jene, die diese Quellen eines gelingenden Zusammenlebens trockenlegen wollen? Sie hindern die Menschen daran, sich zu begegnen. Sie sagen ihnen, dass sie zu Hause bleiben sollen. Sie sperren die öffentlichen Orte, oder sie vergiften sie mit kalten Regeln. Sie sagen den Menschen, dass sie ihre Gesichter verhüllen müssen.

Und was muss man tun, wenn man diese Quellen des Zusammenlebens schützen und fördern möchte? Man muss Begegnung schaffen und das Gespräch von Mensch zu Mensch stiften. Nicht mehr und nicht weniger.

Kenneth Anders
k.anders@oderbruchpavillon.de

studierte Kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Leipzig und Berlin und fand den Einstieg in die Landschaftsthematik durch die Gestaltung einer Ausstellung über die Entstehung der Naturschutzeule in Bad Freienwalde am Haus der Naturpflege. 2004 gründete er mit Lars Fischer das Büro für Landschaftskommunikation. Kenneth Anders ist außerdem als Autor und Sprecher tätig.