Ein anderes Spiel

WIe sich die Universitäten verändert haben

Es ist 1994, ich studiere an Humboldt-Universität zu Berlin und belege eines meiner letzten Seminare vor meinem Abschluss. Mit mir sitzen vielleicht 12 Studenten im Raum. Der Professor ist fahrig, er wirkt nicht gut vorbereitet. Die Diskussion kommt nicht in Gang. Ich frage mich, ob es an dem jungen Mann am Ende des Tisches liegt, der wie aus dem Nichts an unserem Institut aufgetaucht ist. Er nennt sich Éric, später erfahre ich, dass er eigentlich Erich heißt und aus Österreich kommt. Aber er liebt die französische Philosophie und also hat er auch seinen Namen französisiert. Éric spricht immer von Lacan, obwohl es in dem Seminar gar nicht um Lacan geht. Wir anderen haben Lacan nicht gelesen, und der Professor offenbar auch nicht, jedenfalls nicht richtig, aber er lässt sich auf ein Zwiegespräch ein, in dem Éric die führende Rolle einnimmt. Keiner versteht, worum es geht. Nach 90 Minuten gehen wir ratlos auseinander.

Begonnen hatte ich mein Studium 1989, mitten in jenem Leipziger Herbst, in dem die DDR ihr Ende einläutete. In den ersten beiden Studienjahren wurden wir noch von den alten ostdeutschen Professoren und Dozenten ausgebildet. Die Situation war neu für sie, denn auf einmal konnte man offen sprechen, und man konnte und sollte nun auch Texte behandeln, die bis dahin vom marxistischen Kanon verdrängt worden waren. Es war eine besondere Situation, wach und neugierig. Einige holten ihre seit langem verdeckt gehegten Leidenschaften aus dem Schreibtisch, andere lasen die ihnen völlig unbekannten Texte – genau wie wir Studenten – zum ersten Mal. Die Atmosphäre war anregend, denn die gemeinsame Aneignung dieser Literatur hatte etwas Offenes und Ehrliches. Die Dozenten waren uns in ihrer Fähigkeit, in neues Terrain vorzudringen, durchaus voraus, aber neu war dieses Terrain eben auch für sie, jedenfalls als Gegenstand eines Seminars. Ich denke heute, in diesen beiden Jahren habe ich sehr viel gelernt, das Meiste eigentlich in meiner ganzen Studienzeit: Das Lesen komplexer Texte, das Zur-Sprache-Kommen aus der Unsicherheit heraus, den Impuls zum eigenen Schreiben. Oft saß ich bis zum Dunkelwerden im Lesesaal der Deutschen Bücherei und dachte: Was für ein großartiges Privileg, dass du hier sitzen und lesen und schreiben darfst!

In den folgenden Jahren mussten die meisten ostdeutschen Dozenten ihren neuen Kollegen Platz machen. Das gemeinsame Suchen war vorbei, das Spiel hatte sich geändert. Die Professoren hatten nun eine Popularität zu hüten, sie verwalteten ihre eigenen Netzwerke, ihre Jünger und Publikationen, ihr Medienecho, ihre Konkurrenzen. Die Dozenten meiner ersten Jahre hatten uns irgendwie wahr- und ernstgenommen, die neuen Kollegen beachteten einen meist nur, wenn man das seltsame Spiel der Geltung mitspielte, das sich an den Universitäten etabliert hatte. Dazu war ich nicht in der Lage. Ich habe meine ganzen Berliner Jahre hindurch nach einem Lehrer gesucht, mit dem ich noch einmal so lesen und sprechen könnte, wie mit den Dozenten in der frühen Studienzeit. Aber obwohl es natürlich auch weiterhin durchaus redliche und gute Professoren gab, war doch das Terrain so mit Eitelkeiten verstellt, dass ich nie jemanden fand.

Drei von uns haben später noch promoviert. Bernd wartete zwei Jahre, bis der eine Gutachter (ein Pop-Star unter den Kulturwissenschaftlern) unwillig sein Gutachten vorlegte. Bei Franz schlief der eine Prüfer in der Verteidigung vor der versammelten Zuhörerschaft ein. Bei mir verlief es glimpflich, aber auch ich schämte mich am Ende, dass ich mir für die Verteidigung meiner Arbeit, auf die ich immerhin auch ein Jahr hatte warten müssen, einen Anzug gekauft hatte, und dass meine Eltern mit Blumen gekommen waren. Gemeinsam hatten wir vor der Veranstaltung noch die Stühle von den Tischen heruntergestellt. Es war, als würde ich mich viel zu wichtig nehmen.

Ich bin heute der Überzeugung, dass es einfach nicht Sinn der heutigen Universitäten ist, jungen Menschen wirkliche Lehrer an die Seite zu stellen, an und mit denen sie wachsen können. Sodass selbst jene, die immer noch gern Lehrer sein möchten und dies auch können, an dieser Aufgabe in den meisten Fällen dann auch scheitern. Denn schon unter den Studenten sind ja immer solche, die das Spiel der Geltung forcieren und die anderen, wo immer sie sich zu Gruppen formieren, in ihre seltsamen Bande wickeln. Um die gesamte soziale Situation umzukrempeln, dafür braucht es nicht viele.

Seit 2009 biete ich Sommerschulen für Studenten landschaftsbezogener Studiengänge an. Die Anfänge waren wild, wir machten Interviews, diskutierten, kochten, suchten performative Lösungen, um unsere Einsichten aus den Gesprächen auszudrücken. Wir produzierten Zeitungen und gestalteten Ausstellungen, wir schrieben, spielten Lieder und entwickelten Choreografien. Gearbeitet wurde rund um die Uhr, meistens bis nachts. Diese fünftägigen Sommerschulen waren so produktiv und erkenntnisreich, dass ich noch bis heute davon zehre. Wir lachten viel, und wir lernten viel.

Aber mit den Jahren hat sich der Charakter dieser Tage verändert. Zum Beispiel geht es viel ums Essen, es sind immer mehrere Studenten mit spezifischen Anforderungen an die Versorgung in den Gruppen, die für sich und ihre Ernährungsweisen Aufmerksamkeit fordern. Die Frauen dominieren, die jungen Männer führen ein Schattendasein, als seien sie mit einer Tarnkappe unterwegs. Zum Auftakt werden Vorstellungsrunden gefordert, die nach meinem Empfinden den Zweck haben, aus einer Veranstaltung, die eigentlich ein Thema hat, eine spezifische soziale Interaktion zu machen. Der Gegenstand, die Sache selbst, wird in den Hintergrund gedrängt. Es wird eine Form der Achtsamkeit etabliert, mit der leistungsfördernde Impulse und Wahrnehmungen als Aggression dargestellt und unterdrückt werden können. Somit wird weniger gearbeitet, und es entsteht auch keine Dynamik. Zuletzt wird die eigene Unfähigkeit nach außen gekehrt und den Dozenten angelastet. In der Auswertung neigen einige dazu, Zensuren zu verteilen, statt die erlebten Tage als Erfahrung anzunehmen und etwas aus ihnen für sich daraus fruchtbar zu machen. In einem Satz wird gefordert: man brauche mehr Struktur und man brauche mehr Freiheit, der darin steckende Widerspruch wird nicht reflektiert. Die Gruppendynamik ist zutiefst unmusikalisch. Die Studenten reden über sich als Personen („Da kommen noch zwei Personen vom Essen“). In diesen Gruppen wird, im Gegensatz zu den ersten Jahren, nicht mehr gesungen. Es entstehen keine Lieder, es wird auch kaum gelacht. Wenn ich lachen will, setze ich mich mit den anderen älteren Betreuern abseits.

Übrigens ist Éric inzwischen Professor an einer deutschen Universität. Er ist der Einzige aus meinem Jahrgang der das geschafft hat. Inzwischen heißt er wieder Erich. Und ich danke jeden Tag meinem Leben, dass es mich von der Universität weg und aufs Land geführt hat, in Verhältnisse, in denen das Spiel der Geltung nicht gespielt wird.

Kenneth Anders
k.anders@oderbruchpavillon.de

studierte Kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Leipzig und Berlin und fand den Einstieg in die Landschaftsthematik durch die Gestaltung einer Ausstellung über die Entstehung der Naturschutzeule in Bad Freienwalde am Haus der Naturpflege. 2004 gründete er mit Lars Fischer das Büro für Landschaftskommunikation. Kenneth Anders ist außerdem als Autor und Sprecher tätig.