07 Dez Die Larve
Eine Weihnachtsgeschichte
Leo war nie ein guter Weihnachtsmann gewesen. Er spielte die Rolle ohne Humor, es fehlte ihm auch an Selbstironie. Er mochte keine Kinder, und er verstand die Erwartungen der Eltern nicht. Wollten sie, dass er bei der Bescherung als Erzieher auftrat oder als Unterhaltungsclown? Das fragte er in den Vorabtelefonaten jedes Mal, soll ich schimpfen und drohen oder nur freundlich brummen? Die Antwort fiel immer vage aus. Naja, ein bisschen von dem und ein bisschen von dem, er sollte es aber nicht übertreiben. Diese Unklarheit regte ihn auf.
Da er seinen Widerwillen gegen die Kunden hinter seiner Larve verstecken konnte, verliefen die Bescherungen trotzdem glimpflich. Spaß machte es ihm nicht. Er hatte den Job schon länger an den Nagel hängen wollen, doch ausgerechnet zum Jahresende war er in der Regel klamm. Also blieb er in der Agentur gelistet, und da es – seltsamerweise – in diesem Gewerbe noch keine personenbezogenen Bewertungen gab, fiel seine schlechte Performance nicht weiter auf. Weihnachtsmann war Weihnachtsmann, da gab es weder persönliche Namen noch Nummern. Günstig war auch, dass die Saison immer früher einsetzte, schon im November holten sich auch Betriebe und Kindergärten gern mal einen Weihnachtsmann. Großstadt eben. Das Studium ging zu Ende, ohne Abschluss, er wurde 30, dann 35, und immer noch war er im Nieselnebel als Weihnachtsmann unterwegs, maulig und lustlos, aber was solls.
Das änderte sich erst in den frühen zehner Jahren, als er andere Weihnachtsmänner kennenlernte, die ähnlich wie er drauf waren, aber es irgendwie hinbekommen hatten, aus ihrer Leidenschaftslosigkeit eine Weltanschauung zu basteln. Die hatten es geschafft, den Spieß umzudrehen: Statt an sich selbst zu arbeiten, fingen sie an, den Kunden Schuldgefühle zu vermitteln, erzieherische Hinweise zu geben und sich dafür auch noch doppelt bezahlen zu lassen. Das Konzept nannte sich „Ethische Weihnachten“, und es gefiel ihm außerordentlich. Man musste, um damit durchzukommen, schon bei der telefonischen Vorbesprechung Fragen stellen, durch die die Kunden ihre Sündhaftigkeit erkennen konnten. In diese Lücke konnte man dann mit Kompensationsvorschlägen vorstoßen.
Ein normales Engagement lief nun in etwa so ab: Leo rief den Kunden an, nahm den gewünschten Termin und die Adresse entgegen und fragte, wie viele Kinder es waren und wo er den Geschenkesack vorfinden würde. Nachdem das geklärt war, wartete er einen Moment, und in die Stille hinein sagte er: Noch etwas – haben Sie ihre Geschenke zertifizieren lassen?
Die meisten Eltern reagierten erschrocken. Zertifiziert, nein, Entschuldigung, macht man das?
Na heute schon, sagte Leo, und dann nöselte er ein bisschen vor sich hin, er war ja ein Experte, das Gebaren hatte er sich von diesem Virologen abgeschaut, es ging ganz einfach: Nun, das ist natürlich keine Vorschrift, ich kann ihnen nur sagen, als Weihnachtsmann, als Fachmann sozusagen, dass heute viele schädliche Geschenke im Umlauf sind, da sollte man auf jeden Fall was tun. Manche schaden dem Klima, die meisten eigentlich, andere sind gesundheitsschädlich, da gibt es allerlei Gefahren, also wenn wir schon bei Weihnachten sind, könnte man sagen: Jesus würde seine Geschenke zertifizieren lassen.
Ach, sagten die Eltern, und wirkten ratlos. Es handelte sich in der Regel um besser gestellte Leute, alle mit Universitätsabschluss und meistens im semipolitischen Bereich tätig. Diese Menschen hatten ohnehin immer Schulgefühle und waren sehr gutgläubig. In ihr entsetztes Schweigen hinein sagte er dann also: Na das kriegen wir schon hin, ich schau die Sachen kurz durch und dann stell ich Ihnen das Zertifikat aus.
Oh, das wäre aber nett, sagten die Eltern, aber die sind ja schon eingepackt.
An dieser Stelle lachte Leo immer in sich hinein, diese Leute waren so naiv, glaubten sie denn, dass er den ganzen Wohlstandsmüll einzeln begutachten wollte? Also sagte er bloß: Das ist kein Problem, da haben wir einen Test entwickelt, der basiert auf einer neuen Technologie, das wird alles auf Nanobasis ermittelt.
Achso, antworteten die Kunden. Nun musste man nur noch den Preis ansagen, der für das Zertifikat anfiel, 5 € pro Paket brachte er in Anschlag. Die Leute waren an Zusatzabgaben aller Art gewöhnt und bezahlten widerstandslos.
Schließlich kam die Bescherung. Leo betrat den Raum und brummelte: Na, hoho, hier ist die Heizung ja mächtig aufgedreht, ihr lasst es euch aber gut gehen, bei diesen Gaspreisen! Die Weihnachtsgesellschaft sah ihn erwartungsvoll an, und Leo legte nach: So ein Weihnachtsbaum hat zwar keine gute Ökobilanz, aber wir wollen nochmal ein Auge zudrücken, nicht wahr? An den Kindern fand er immer etwas zu meckern, das war gar kein Problem, sie hatten ihre Hausschuhe nicht an oder aßen zu viele Süßigkeiten, oder sie hatten andere Unarten, für die sich die Erwachsenen wiederum schuldig fühlten.
Am Ende bekam er meist das doppelte Trinkgeld, einerseits, weil die Leute dankbar waren, dass der Weihnachtsmann nicht noch mehr auszusetzen gehabt hatte, zum anderen, weil das Ganze tatsächlich ein bisschen wie ein Ablasshandel funktionierte. Und außerdem waren sie auch froh, ihn wieder loszuwerden.
So weit, so gut. Leo schlurfte sich auch in diesem Jahr, weiterhin schlechtgelaunt, zugleich aber durchaus gewieft, durch das Weihnachtsgeschäft. Trotz Inflation und allgemeiner Depression war es ein erfolgreiches Jahr für ihn gewesen, die Einnahmen kletterten, es kam der Heilige Abend, er war nun doch beinahe guter Laune. Am Weihnachtsmarkt, ganz in der Nähe seiner Wohnung, wurde er leichtsinnig und wollte sich zur Feier des Tages einen Glühwein spendieren. Sündhaft teuer waren die ja, aber es war ja nicht alle Tage Weihnachten. Er trat also an die Bude und brummte: Einen Glühwein bitte! Der Verkäufer sah kurz auf und meinte: Den schenk ich Ihnen, Sie sind doch der Weihnachtsmann. Leo konnte sein Glück kaum fassen. Aber bitte mit Schuss! rief er eilig unter seiner Larve hervor, wenn schon denn schon! Was für ein Glück! Noch ein letzter Einsatz, dann war es für dieses Jahr überstanden. Zuhause würde er sich einen Film anmachen. Oder was zocken. Mal sehen. Es wartete ja niemand auf ihn.
Die Larve hatte er nach oben geschoben, vorsichtig pustete er auf seinen Glögg. Der Weihnachtsmarkt war schon recht leer. Am Bratwurststand drehte einer die letzten Würste über den Grill, die Händler mit ihren selbstgesiedeten Seifen, mit den Sternenlampen und den Heilsalben packten langsam ein. Wo musste er jetzt hin? Ach richtig, in die Graumannstraße. Da kriegte er fast wieder schlechte Laune, die Frau dort hatte sich im Vorfeld nicht zu einem Ablasshandel überreden lassen, das Viertel, in dem er selbst auch wohnte, war ja auch nicht das Beste. Kommen se einfach vorbei, hatte sie gesagt, Geschenke stehn an der Tür. Dann war sie auch schon fertig mit ihm gewesen.
Also den Glühwein ausgetrunken, und auf gings. Es war gleich um die Ecke. Er suchte die Klingel, WICHTEL war der Name, das war ja einigermaßen eigenartig, dachte er noch, aber da hörte er auch schon die Wechselsprechanlage. Dritter Stock, hörte er eine Stimme aus dem Lautsprecher, dann ein Husten, dann ging der Türsummer, und schon stand Leo im Hausflur. Dunkel war es, und still. Das Treppenhauslicht schien kaputt zu sein. Also tippelte er vorsichtig die Treppen hoch. Vor der Tür sollte der Sack stehen.
Oben angekommen lehnte da eine große ALDI-Tüte an der Tür. Also wirklich, dachte Leo, haben die nicht mal einen Sack? Er nahm die Tüte und wollte klingeln, sah aber, dass die Tür nur angelehnt war. Er klopfte und betrat die Wohnung.
Still war es drinnen, und dunkel, nur aus der Küche fiel ein Schimmer in den engen Flur. Leo tastete sich vor, bis er in der Küche stand. Ho, ho, ho, machte er dort, sind denn hier brave Kinder, oder wer hat hier die Tür offenstehen lassen? Ist euer Vater denn Glaser? Diesen seltsamen Spruch hatte er sich noch von seiner Mutter gemerkt, er wusste eigentlich gar nicht, was der bedeuten sollte. Aber jedenfalls hatte er etwas damit zu tun, dass man die Tür zumachen sollte.
Am Küchentisch saß eine Frau. Sie hatte eine Kerze angezündet und rauchte eine Zigarette. Man konnte leicht erkennen, dass da kein vom Glück verfolgter Mensch saß. Alles an ihr wirkte grau und abgenutzt, sie hatte tiefe Falten im Gesicht und Ringe unter den Augen. In der Spüle türmte sich schmutziges Geschirr. Leo war verwirrt, aber noch nicht so verwirrt, dass er aus seiner Rolle ausgestiegen wäre. Immerhin war er Profi.
Wo ist denn hier die Weihnachtsgesellschaft? fragte er, um einen tiefen Brummton bemüht.
Ick bin die Weihnachtsgesellschaft, sagte die Frau. Setz dich.
Leo gehorchte. Die musste einen Plan haben, also gut.
Mach do mal die Tüte uff. Ick hab Schampus jekooft. Aldi-Schampus. Ick spül uns zwee Gläser ab. Pack ma allet aus.
Leo sagte nichts, aber er gehorchte wieder. In der Tüte befanden sich außer der Flasche Champagner eine Packung Wildlachs, Baguette, Oliven, Weinrauben, Käse, Wurst und ein Obstler.
Du isst jetzt mit mir, sagte die Frau. Denn haste Feierabend.
Leo legte die Sachen auf den Tisch. Hunger hatte er ja. Da es an sauberen Tellern und Schälchen fehlte, um alles anzurichten, trat er zögernd an die Spüle, um zu helfen.
Da isn Handtuch, sagte sie. Er trocknete brav alles ab.
Dann sagte sie: Jetzt setz do mal deine bescheuerte Larve ab. Dass et sowat Einfallsloset no jibt, hätt ick ja ni jedacht.
Leo nahm die Larve ab. Jetzt war er quasi nackt. Unsicher blickte er der Frau ins Gesicht. Die lachte ein bisschen. Da hab ick mir ja wat bestellt! Leo wusste darauf nichts zu sagen. Jetz mach do endlich die Flasche uff, sagte sie. Leo öffnete die Champagnerflasche und goss die beiden bereitstehenden Gläser voll.
Ick bin Sandra, sagte die Frau.
Ich heiße Leo, sagte Leo.
Schön. Leo. Weihnachtsmann Leo. Na denn ma Prost.
Sie stießen an und nahmen jeder einen Schluck. Leo wusste immer noch nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Um wieder abzuhauen war es zu spät. Wortlos öffneten beide die eingeschweißten Einkäufe und verteilten alles auf Teller und Schüsseln. Schließlich setzten sie sich hin.
Juten Appetit, sagte Sandra. Ick hab mir heute n Weihnachtsmann bestellt. Falls de dir wundern tust. Ick wollte mal nich allene sein. Und ick dachte, die Weihnachtsmänner sin garantiert och allet jekenterte Seeln.
Das könnte stimmen, antwortete Leo, zumindest die, die es lange machen.
Und, lass mich ratn, du machst et lange.
Ja, gab Leo zu. Ziemlich lange.
Na denn, erzähl ma, sagte Sandra. Wat für ne Art Weihnachtsmann biste denn. Streng oder freundlich? Oder janz wat andret?
Ich weiß nicht, sagte Leo. Eigentlich ist es peinlich.
Jetzt erzähl schon!
Nun begann Leo, seine Weihnachtsmanngeschichte zu erzählen. Wie er diesen Job zum ersten Mal gemacht, ihn aber nie gern ausgeübt hatte. Dass er die Larve brauchte, weil ihm die Kinder immer angesehen hatten, wie ihm alles gegen den Strich ging. Wie er deshalb nach ein paar Jahren aufhören wollte, aber auf den Trichter mit den ethischen Weihnachten gekommen war.
Und Sandra lachte. Sie lachte Tränen, bis es ihm schließlich selbst schon lustig vorkam.
Einmal, erzählte er, war ich bei einer Familie, die waren so vorbildlich, dass ich dachte, hier kann ich mit meiner Masche nicht landen. Die lebten vegan und hatten kein Auto und scheinbar überhaupt keine ökologischen Schulden. Ich dachte schon, das wars jetzt.
Und, fragte Sandra, wat haste jemacht?
Ich fragte, ob ich mal auf Toilette könnte.
Sandra lachte noch lauter. Der Weihnachtsmann muss uffs Klo!
Und auf dem Weg zur Toilette sah ich die Flugtickets nach den Seychellen am Spiegel in der Garderobe klemmen. Am zweiten Feiertag sollte es losgehen.
Sandra winselte vor Lachen. Und denn?
Dann ging ich erst mal aufs Klo und überlegte. Und als ich in das Weihnachtszimmer zurückkam, brummte ich: Ho, ho, ho, da ist der Weihnachtsmann aber ein bisschen traurig, dass ihr auch noch so weit fliegen müsst, in den Weihnachtsferien! Die Eltern fingen an, ihre Urlaubspläne zu erklären und sich zu rechtfertigen, aber ich schnitt ihnen das Wort ab und sagte: Das geht doch einen Weihnachtsmann nichts an, also wirklich!
Na, und denn?
50 Euro Trinkgeld!
Sandra wieherte. So ging es den ganzen Abend. Leo wurde es nach und nach leichter ums Herz, und er erfuhr auch manches von Sandra.
Als er drei Stunden später unsicheren Schrittes nach Hause ging, warf er die Larve in einen Straßenmülleimer. Diesen Job würde er nicht mehr ausüben können. Vielleicht sollte er es lieber mit einem weihnachtlichen Besuchsdienst versuchen, ohne Larve. Das wäre wohl eine ehrliche Arbeit.