06 Mai REDEN 08_Ruhig werden und bewusst arbeiten
Inmitten verlorener Gewissheiten
1.
Vor einiger Zeit war ich mit einer Frau, die sich als Redakteurin in einem wichtigen Leitmedium herausstellte, eine Woche lang zusammen in einem Segelboot unterwegs. Wir redeten und scherzten Alltägliches, arbeiteten an Bord miteinander. Unser Gespräch außerhalb dieses Alltags war tastend. Als Chiffre diente dieses Sprichwort. „Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken“. Sie verwendete es für ihre Beschreibung der Lage. Das konnte ich aufgreifen.
Wir sprechen über den Kapitän und seine Crew: Darüber, wie das Miteinander auseinanderbricht, wenn der Kapitän nicht das Gelingen des Ganzen und die Verantwortung für die Crew übernimmt. Von dort kamen wir zu ihren Chefetagen. Sie nutzte das Sprichwort, um Veränderungen zu beschreiben, die sie als langjährige Mitarbeiterin dort in den letzten Jahren wahrnimmt. Dann der Schwenk in die große Politik, in zarten Andeutungen.
Mittendrin in politischen Themen bestand sie darauf, im Urlaub zu sein und wir wechselten wieder in ruhigere Wasser. Sie aber verriet mir, dass sie von vorfristigem Renteneintritt träume und umsetzen werde, was dort noch niemand in ihrem Berufsfeld ahne.
Was gibt es mehr als dieses Vertrauen im Miteinander? Was für ein Weg liegt hinter ihr?
2.
Ich versuche mal wieder, eine Bundestagsdebatte zu verfolgen. Ein Abgeordneter redet und bittet um Diplomatie und Eskalationsvermeidung in Sachen Ukraine-Krieg. Der nachfolgende Redner aus einer regierenden Fraktion beginnt seine Rede mit der Bemerkung, sein Vorredner habe sich mit seiner Rede für einen Posten bei Wladimir Putin qualifiziert, um dann sein Statement zu verlesen. Auf die Argumente seines Vorredners geht er nicht ein, alles, was er sagt, ist formelhaft.
Das nennt sich „Aussprache“ im Bundestag.
Darf ein Bundestagsabgeordneter einen anderen so diffamieren? Die Botschaft lautet doch für jeden Zuhörer: „Wenn Du Dich auch so äußerst und öffentlich für diese Richtung engagierst, ergeht es Dir ähnlich!“
Mir macht das Angst. Wenn das die „Debatte“ unseres gewählten Volksgremiums ist, der Kopf der Demokratie, wie soll es dann um den Rest des Volkes stehen? Um uns?
„Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken.“
3.
Ich ertrage keine Nachrichten mehr aus den öffentlich-rechtlichen Medien, ich schalte meist aus. Fast jeder Beitrag enthält an irgendeinem Punkt eine ideologische Stellungnahme und verurteilt Andersdenkende.
Ich bekomme allmählich ein Gefühl, wie nach 1933 das Schweigen in die Familien einzog. Wenn der Vater SPD oder KPD war und der Sohn begeistert in die Hitlerjugend zog, seinen Vater zuletzt im Zweiten Weltkrieg noch wegen Hören von ausländischen Sendern anzeigte. Auch dort als Vorgeschichte in den 1920er Jahren, eine Polarisierung von Links und Rechts, Schlägereien, in die die Polizei und Justiz nicht aufklärend eingriffen. Diffamierung des Bolschewismus, Aufbau der Schwarzen Reichswehr, Attentate.
Und heute? Wieder müssen Politiker für ihre demokratische Überzeugung mit ihrer Gesundheit haften. Verkehrte Welt? Nein, Erkennen aus dem historischen Blick.
4.
Ein halbes Jahr lang, von 15. November 2021 bis 15. März 2022 durfte ich kein Museum, kein Schuhgeschäft, keine öffentliche Bibliothek besuchen. Und Bibliotheken und Museen sind, wohlgemerkt, meine Arbeitsmittel. Ich war ungeimpft. Mit mir betraf diese Regelung etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung.
Darüber reden? Fehlanzeige. Manchmal weise ich heute bewusst auf diese Tatsache hin und ernte ungläubiges Kopfschütteln bei den 80 Prozent, darunter auch bei Eltern und Bruder: „War da was?“, „So schlimm war das doch nicht.“, „Jetzt ist das doch vorbei.“
Ich habe mir dieses halbe Jahr gemerkt und bin auf alles vorbereitet, was jetzt kommt. Denn das Bisherige, so empfinde ich es, war nur der Auftakt.
5.
Und in großen Lettern möchte ich an den Himmel schreiben:
„Redet endlich darüber! Solange es noch nicht verboten ist.“
Über Gerechtigkeit, ohne die wir nicht leben können.
Über unsere riesige Schuld an den Kriegen dieser Welt, auch den, den Russland in der Ukraine führt.
Unsere Überhebung, die mit unserem tiefen Fall enden wird.
6.
Die Ausbeutung alles Menschlichen für den Mehrwert, den Profit, das ist das kapitalistische Grundprinzip unserer Gesellschaft. Es greift in die Kultur hinein, die sich rechtfertigen muss, die ihre Besucher und ihre Seitenklicke abrechnet. Da gibt es Kunstmuseen, von denen kann ich vor allem reden, die schippern durch die Jahre, indem sie immer wieder das alte Erforschte umgewendet präsentieren. 2024 ist es Caspar David Friedrich. Nach etwa 30 Jahren Erfahrung sehe ich: Je größer die Institution, umso eher wird zu dieser Methode gegriffen. Die Werbung macht den Erfolg, auf den Titel und die provokante These kommt es an. Es ist dasselbe Prinzip wie in der Politik.
Dabei ging es doch mal ursprünglich gerade um Miteinanderreden, Dialogstiften. Die Hocker in den Kunstmuseen werden seltener genutzt, seltener sich gesetzt, um in Ruhe vor einem Gemälde miteinander zu sprechen. Das Museum muss ja den kundigen Moderator dieses Dialogs bezahlen, das rechnet sich nicht.
7.
Wie schön ist dieses Deutschland, ausgezeichnet durch ein ausgeglichenes Klima, eine lange Geschichte. Wie reich ist dieses Deutschland! Wieviel engagierte Menschen gibt es, gerade auch da, wo wir es nicht sehen. Abseits der Scheinwerfer und Kameras. Ich sehe ihr Lächeln und danke, freue mich über den Scherz des Schaffners, das Hilfeangebot für die ältere Frau und ich weiß, wir sind am klügsten, wenn wir Menschen bleiben und wissen: Jeder braucht Jeden. Keiner ist besser als der andere.
Ich gehe ganz ruhig durch den Alltag, damit ich Ruhe und Umsicht habe für alles, was ich tue. Meine Arbeit dreht sich um die Museumssammlungen, die zu wenig bekannt, zu wenig geschätzt sind. Ich arbeite in verschiedenen Projekten. Allein an der Online-Publikation von Museumsobjekten, um sie so dem Vergessen zu entreißen. Gemeinsam mit Museumskollegen, von dem alten Lehrer in der Heimatstube bis zur promovierten Fachkollegin. Wir sprechen unsere Fragen an Objekte aus, kommen zu manchen Einsichten, die wir notieren, zusammenfassen in einem Themenportal online und so nachlesbar machen. Ich freue mich über manchen, der jetzt, angefacht durch das Projekt, auch seine Museumsobjekte bearbeitet. So sind einige schöne Beiträge entstanden. Hier kann man sie lesen.
Ein Kapitel nannte ich „Darüber reden“.
P.S. Der Text reagiert auf diesen Aufruf von Ulrike Meier und Kenneth Anders.