13 Dez REDEN 01_Wir müssen reden…
Einleitend
Bisher habe ich fast immer gerne mit Menschen geredet, Erfahrungen ausgetauscht, Gedankengänge ausprobiert, Neues gelernt. Ich höre in der Regel sehr gerne zu, greife Ideen auf und spinne sie weiter, versuche offen zu bleiben für das, was mein Gegenüber dann wiederum Überraschendes daraus zu machen vermag. Schon oft wurde mir während eines Gespräches manches erst so richtig klar, oder es eröffneten sich ganz neue Perspektiven. Auch befällt mich manchmal ein Gefühl der Rührung, wenn ein Gesprächspartner im Laufe eines Gespräches immer mehr an Profil gewinnt, sodass Originalität und Reichtum einer Persönlichkeit plötzlich deutlich in Erscheinung treten. „Was ist herrlicher als Gold?“ heißt es in Goethes Märchen und die Antwort lautet: „Das Gespräch!“
Heute bekomme ich ein ziemlich mulmiges Gefühl, wenn ich an diese Worte denke. Meine Fähigkeit, Gespräche zu führen, scheint irgendwie ins Hintertreffen geraten zu sein. Ich sehne mich zwar danach, kriege es aber offensichtlich gar nicht mehr so richtig hin! Das ganze letzte Jahr habe ich, gefühlt, auf vielen Veranstaltungen und Partys herumgesessen und gestanden, teilweise froh, wieder unter die Leute zu kommen, aber doch unfähig, mit jemandem in ein wirkliches Gespräch zu kommen. Mit Ach und Krach schaffte ich es manchmal, Themen zu finden, die in einem unbeschwerten Plauderton abgehandelt werden konnten, um danach dann doch wieder in ein ratloses Schweigen zu verfallen. Einige Male wurde es sogar so schlimm, dass ich mich frühzeitig davonstehlen musste, um zu vermeiden, dass meine Stille zum Affront wurde.
Der Hauptgrund für meine Blockade liegt darin, dass mir die Fröhlichkeit der Menschen nicht wirklich glaubwürdig erscheint. Unter der mühsam gehaltenen Oberfläche schwelen, nach meinem Empfinden, die Erfahrungen der letzten drei Jahre, die jede erwünschte Leichtigkeit konterkarieren. Angst, Misstrauen, Übervorsichtigkeit beherrschen unsere Begegnungen, so meine ich zu beobachten, und die Themen, die uns eigentlich unter den Nägeln brennen, kommen mir vor wie Wunden, auf denen sich gerade mal ein ganz dünner Hautfilm gebildet hat, der sofort wieder aufreißt, sobald bestimmte Worte fallen und der Austausch eine bestimmte Richtung einzuschlagen droht.
Vor kurzem habe ich versucht, einer alten Bekannten, deren Auffassungsgabe und Empathievermögen ich sehr hoch einschätzte, zu erklären, wie es mir in den letzten Jahren ergangen ist. Da meine Bekannte über viel Geschichtswissen und außerdem über ein mitfühlendes Künstlerinnenherz verfügt, rechnete ich mit einer gewissen Sensibilität in der Frage der Diskriminierung von Minderheiten und der Verletzung von menschlichen Grundrechten. Leider war aber das Gegenteil der Fall. Egal wie sehr ich versuchte, möglichst nah an meinem persönlichen Erfahrungshorizont zu bleiben und möglichst aufrichtig von mir zu berichten, meine Bekannte sortierte mich im Handumdrehen in alle möglichen Kategorien ein, von antiamerikanisch bis kapitalismus-kritisch, von reaktionär bis antiaufklärerisch, von geschichtsvergessen bis psychisch labil. Etwa zwei Wochen lang kreisten meine Gedanken nahezu ununterbrochen um die Frage, wie ich meine Anliegen nachvollziehbarer darstellen könnte, wie ich Empathie einholen könnte für die zahlreichen Opfer der Corona-Maßnahmen und vermeintlichen Impfungen und wie ich umgehen sollte mit dem latenten Vorwurf, auch ich würde letzten Endes faschistoidem Gedankengut, wenn nicht direkt anhängen, so doch indirekt Vorschub leisten. Mein Alltag geriet durcheinander. Ich konnte mich auf die einfachsten Abläufe nicht mehr richtig konzentrieren. Letzten Endes hatte ich das Gefühl, den Sperrfeuern, die da per Email auf mich einprasselten, nicht standhalten zu können und beendete unsanft den Austausch.
Trotz dieses beschämenden Zusammenbruchs meiner Gesprächsbereitschaft gegenüber meiner Bekannten, muss ich nun anerkennen, dass gerade diese Auseinandersetzung entscheidend dazu beigetragen hat, mein Denken über unser heutiges, zwischenmenschliches Sprechen zu intensivieren. Heinrich von Kleist beschreibt diesen Mechanismus in seinem Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Wir brauchen das Gespräch, nicht nur für die verlebendigende Begegnung, sondern auch um unser Denken überhaupt in Gang zu setzen. Und ganz in diesem Sinne bin ich nun auch Kenneth Anders und Ulrike Meier sehr dankbar für den Impuls, Beiträge zu sammeln und einen Raum zu schaffen für dieses Thema.
Die zwei Fragen, die mich am meisten bewegen sind Folgende: Woher rührt das, was ich erlebe als unseren heutigen Mangel an Gesprächsfähigkeit? Und ergeben sich, zweitens, aus der Analyse dieses Umstandes ein paar Gesichtspunkte, die die Lage verbessern könnten?
Bei der ersten Frage geht es hauptsächlich um Tendenzen, die nicht erst seit Corona eine Rolle spielen. Die Abnahme unserer Gesprächsfähigkeit kann nicht (nur) eine Folge des Corona-Dramas oder anderer aktueller Kriegsschauplätze sein, sonders muss, meines Erachtens, vor allem als eine seiner Ursachen betrachtet werden, deren Wurzeln weiter zurück reichen. Und bei der Suche nach Möglichkeiten, die Situation zu verbessern, lande ich in erster Linie bei mir selbst. Denn die Schwachstellen, die ich im Folgenden beschreiben werde, sind ebenfalls meine Eigenen. Und auch wenn ich mir natürlich erhoffe, dass dieser Text den ein oder anderen Leser inspiriert, bleibt mir letzten Endes nichts anderes, als vor allem selbst zu versuchen, die zerstörerischen Muster abzumildern und auf eine veränderte Weise das Gespräch mit meinen Mitmenschen zu suchen.
1
Der mangelnde Innenraum
Ein Gespräch birgt immer Risiken. Nicht nur das Ende ist offen, auch man selbst muss dem Gegenüber Einsichten gewähren in das eigene Leben und Empfinden. Sowohl gedanklich als auch psychologisch ist nicht sicher, was im Laufe eines Gespräches alles passiert. Stoßen wir vielleicht auf Ansichten, die uns völlig neu sind, die aber so gut argumentiert werden, dass sie Anspruch darauf erheben, unser Weltbild zu verändern? Stoßen wir auf Ideen, die wir für problematisch halten, vielleicht sogar für „gefährlich“? Oder stoßen wir auf Sichtweisen, die unser eigenes Handeln in keinem so rosigen, sondern eher in einem etwas fragwürdigen Licht erscheinen lassen? Wird uns im Laufe des Gespräches klar werden, dass wir bisher bestimmte Dinge nicht sehen konnten oder wollten? Und wenn wir dies zugeben, oder auch ganz andere, persönliche Dinge offenlegen, ist diese Offenheit dann bei unserem Gegenüber gut aufgehoben?
Ein erster, wichtiger Grund für die Abnahme unserer Gesprächsfähigkeit liegt meines Erachtens in der Erfahrung, dass das Risiko der Öffnung eingegangen und mit zu wenig Sorgfalt behandelt oder gar missbraucht wurde. Dies kann auf viele verschiedene Weisen passieren. Oft geschieht es auch ‚nur‘ dadurch, dass wir merken, dass bestimmte Informationen achtlos weitergereicht wurden oder dass über uns irgendwelche Geschichten kursieren. Oder wir spüren bei einer nächsten Begegnung, dass nur wenig, oder nur sehr selektiv, abgespeichert wurde, was wir versucht haben, zu erzählen.
Insgesamt, so meine ich zu beobachten, haben wir heute wenig Gespür für den Innenraum eines Gespräches, für das Private an dem ganzen Vorgang. Die ständige Umstülpung des Intimen zu einem allerseits einsehbaren und anhörbaren Außen ist uns zur Normalität geworden und beeinträchtigt unsere Fähigkeit, Gesprächsräume aufzuspannen und mit einer subtilen, schützenden Grenze zu versehen. C.G. Jung berichtete einmal, er empfände als Therapeut eine moralische Verpflichtung, dem Patienten immer wieder „sein Geheimnis zurückzugeben“. Es scheint mir genau diese zwischenmenschliche Integrität, auf die wir mehr achten sollten, wenn wir unserer Gesprächskultur zu einem neuen Aufwind verhelfen wollen.
2
Übergriffige Kategorisierung und Moral als Gruppenangelegenheit
Ein Gespräch lebt auch von einer beidseitig anerkannten Vorläufigkeit der ausgesprochenen Gedanken, also von der Annahme, es handele sich in erster Linie um eine Art Übung, ein Trainieren der eigenen seelischen Beweglichkeit, ein gemeinsames Suchen. Extrem kontraproduktiv wirkt daher unsere heutige Neigung, unser Gegenüber so schnell wie möglich in weltanschauliche und gesellschaftspolitische Kategorien hinein zu sortieren, weit bevor die Gelegenheit zu einer wirklichen Begegnung hätte entstehen können. Während es also eigentlich darauf ankommt, im Laufe eines Gespräches einen Zipfel des Schleiers zu lüften, hinter welchem sich die individuelle Persönlichkeit verbirgt, wickeln wir unser Gegenüber lieber immer fester ein in verhüllende Attribute und Zuschreibungen.
Und auch das Umgekehrte ist der Fall. Wir ordnen auch uns selbst einem weltanschaulichen Schubladensystem unter und lassen es zu, dass bestimmte Gruppierungen uns die komplexe und oftmals langwierige Entwicklung eines moralischen Innenlebens abnehmen. Wir heften uns Banner und Aufkleber, Plakate und Etiketten ans Revers, bekleben unsere Autos, Haustüren, Klamotten, um nach außen hin deutlich darzustellen: Wir denken so und so. Wir stehen auf der und der Seite. Wir fühlen uns, gemeinsam mit unseresgleichen, so, und nicht anders. Die Ideale der Gruppe werden eingraviert in unsere Außenhülle, als seien sie auf der Innenseite bereits verwirklicht, oder als könnte dieses äußere Anheften gar das Ringen um die Verwirklichung ersetzen.
Allerdings ist der Gebrauch dieser Bepperle inflationär, sodass die bezeichneten Angelegenheiten rapide an Wert verlieren. Je mehr Waren als ‚fair‘, ‚nachhaltig‘‚ ‚erneuerbar‘‚ ‚artgerecht‘ bezeichnet werden, ohne dass sich in der Realität irgendetwas geändert hätte, desto inhaltsleerer werden eben diese Etiketten. Oder je mehr Szenarien der sozialen Reibung und der eklatanten Disharmonie mit plakativen Slogans der „totalen Einigkeit“ zugepflastert werden, desto unglaubwürdiger wird der behauptete Zustand.
Wir machen uns jedenfalls immer seltener als Einzelpersönlichkeit auf den Weg, um Stück für Stück, und bis ins hohe Alter, an unserem eigenen Kompass zu arbeiten, sondern wir besorgen uns lieber ein Gesamt-Paket, bei einer wenig heterogenen Angebotssituation. Wir gehören zu einem gesellschaftlichen Segment, wir repräsentieren einen Typus. Dies ist dann allerdings von oben manipulierbar, weil Gruppenidentitäten viel leichter zu lenken sind als bewusste Einzelindividualitäten. Und auf das Gespräch wirken solche moralisch konnotierten Kollektividentitäten immer hemmend, um nicht zu sagen zerstörerisch. Unsere Gespräche geraten ins Stocken, weil andauernd irgendwelche Gebote greifen und weltanschauliche Glaubenssätze einrasten. Der individuelle Mensch, der niemals deckungsgleich ist mit einer Gruppierung, kann sich einfach nicht aussprechen, und kann nicht wahrgenommen werden, wenn nach wenigen Blicken oder Sätzen festgelegt wird, welcher Gruppe er zuzuordnen ist. Und die eigene Gesprächsfähigkeit kann nicht wachsen, wenn wir nicht den Mut haben, uns selbst immer wieder die kritische Frage zu stellen, inwiefern die eigenen Ansichten gruppenmoralisch bedingt sind, oder wirklich auf tieferliegende, persönliche Prozesse der Urteilsbildung beruhen.
3
Mehr Schein als Sein, oder der mangelnde Aufklärungsimpuls
Eigentlich ist es ein angeborener Gehirnreflex des neuzeitlichen Menschen, moralische Gebote kritisch zu prüfen. Wir sehen das an unseren Kindern. Jede Botschaft, jede Vorschrift, jede kulturelle Handlungsweise löst in ihnen geradezu zwangsläufig die Frage aus, was passiert, „wenn man sie umdreht“. (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches) Sie wollen wissen, wieviel Substanz hinter den Dingen steckt, die wir Erwachsene als „unsere Regeln“ und „unsere Zivilisation“ vor sie hinstellen. Ihr früh wachgekitzeltes Denken versucht, die Autorität auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und das Profane am vermeintlich Unantastbaren aufzudecken. Und wir müssen uns dieser Herausforderung stellen, denn unsere säkularisierte, kulturell fast vollkommen entleerte Welt ist wie sie ist, weil wir selbst, als Menschheit, vor hunderten von Jahren begonnen haben, konsequent und möglichst furchtlos zu fragen nach dem Sein hinter dem Schein.
Heute frage ich mich allerdings, wo dieser unser neuzeitliche Aufklärungsimpuls in uns Erwachsenen eigentlich geblieben ist. Denn es hat ganz den Anschein, als hätten wir, im Gegenteil, eine immer größer werdende Angst vor dem Hinterfragen und dem genaueren Hinsehen entwickelt. Wir vertrauen den Autoritäten aus Politik, Medizin, Wissenschaft und Wirtschaftswesen kindlicher als unsere eigenen Kinder, und wir begegnen den manipulierten Gruppenidentitäten, die uns schützen sollen vor den Zumutungen des Selber-Suchens, geradezu anhänglich und tiefgläubig. Ja, die Europäische Aufklärung scheint gekapert worden zu sein, und zwar zum widerholten Male, durch Menschen, die sie in ihr eigenes Gegenteil verkehren mittels der Errichtung neuer, außerordentlich stabiler Machtgefüge und der Verbreitung neuer, außerordentlich zäher Glaubenssätze, wie zum Beispiel die Doktrin der Geistlosigkeit aller Materie.
Innerhalb dieser von oben eingeführten, neuzeitlichen Machtstrukturen und Glaubensdoktrinen scheint die aufklärerische Frage nach dem Sein statt dem Schein überflüssig. Denn der Schein hat sowieso gewonnen, indem er nämlich beansprucht, das einzig lebbare Sein darzustellen. Das demaskierende Denken, wie auch die offene, zwischenmenschliche Begegnung, die diesem Denken erst auf die Sprünge hilft, erübrigt sich in einer Welt, die sich in einen permanenten Maskenball verwandelt hat. Es geht gar nicht mehr um das, was sich wirklich abspielt oder was wirklich zwischen uns entsteht, sondern nur noch darum, welches Bild wir dabei nach außen hin ergeben. Das prüfende Bewusstsein dient nicht dem hinterfragenden Denken, sondern dem Abgleich zwischen der äußerlich sichtbaren Realität und einer filmischen, kataloghaften Wunschwelt, die in uns zur Richtlinie geworden ist. Oder, mit anderen Worten: Unsere abwägenden Sinne prüfen das Außen nicht ob seiner Wahrhaftigkeit, sondern ob seiner Ähnlichkeit zum gelungenen Werbefilm, was letztlich ein semireligiöser, anti-aufklärerischer Vorgang ist.
Ich denke, ein Teil unserer aufklärerischen Grundimpulse ist heute abgewandert ins Cabaret und in das dauernde, quasi-humoristische Kolportieren von Werten. Auf der Humor-Insel darf unser Demaskierungs-Talent sich weiter austoben, so viel es will, solange die Grenze zur ernsthaften Kritik nicht überschritten wird. Das Gelächter, das im Laufe der Zeit innerhalb dieser erlaubten Aussparung hörbar geworden ist, ähnelt allerdings inzwischen eher einem gellenden Geschrei, als einem authentischen Lachen, sodass ich mich manchmal frage, wann eigentlich der Punkt erreicht sein wird, an dem dieses so gesteigerte Lachen in ein Weinen umschlagen wird.
Das Gespräch aber lebt, wie das Denken selbst, weiterhin von der Suche nach dem Sein hinter dem Schein. Es lebt von der Bereitschaft, das menschliche Denken, frei von Gruppenzwängen und Herrschaftsansprüchen, auch anzuwenden. Der Wille, das eigene Verstehen zu mehren, ist in einem echten Gespräch größer, als das Bedürfnis, die bisherige Haltung bestätigt zu sehen. Ja, ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, ein gutes Gespräch basiert letztlich auf der Hoffnung, die eigenen Ansichten auf Grund der vorgetragen Argumente und Erfahrungen des Anderen richtiggehend revidieren zu können.
4
Der Raub der echten Gefühle
Mein dreizehnjähriger Sohn überraschte mich letztens mit einer authentischen Aufklärungsgeste, indem er beim Abendbrot plötzlich fragte, er wolle zu gerne mal wissen, was das Glas Erdnussmuss eigentlich mit Liebe zu tun habe. Auf dem Glas stand: „Wir machen Bio aus Liebe“. Ich antwortete, das fände ich eine gute Frage und wir mutmaßten eine Weile gemeinsam, wie viele der Menschen, die an dem Produktionsprozess dieses Mußes beteiligt gewesen waren, vielleicht tatsächlich „mit Liebe“ bei der Sache gewesen sein könnten. Uns wurde bald klar, dass dies eher eine Minderheit betreffen konnte, da die Arbeit in der Fabrik und auf einer Erdnussplantage wahrscheinlich recht anstrengend und eintönig werden konnte. Außerdem stellten wir fest, dass eine liebevolle Beziehung zum Produkt tagesabhängig sein musste, weil Laune und Liebefähigkeit eines jeden Menschen nun mal schwanken. Und zuletzt mussten wir noch feststellen, dass dieser Slogan wahrscheinlich am allerwenigsten für die geschäftsführende Etage oder für die Marketingabteilung Gültigkeit besitzen konnte, die sich, (nach unserer eigenen Erfahrung), in der Regel hauptsächlich um Preisoptimierung und Karrierefortschritt bemühen.
So weit so gut. Bis hierhin handelte es sich ja noch um ganz normale, aufklärerische Gehirngymnastik. Mein Sohn aber ging einen Schritt weiter. Er empfand spontan eine Diskrepanz zwischen dem Wort Liebe und der damit empfohlenen Paste. Es bäumte sich in ihm etwas auf. Sein Hauptanliegen bestand gar nicht darin, den Produktionsprozess oder dieses leckere Muss zu entwerten, sondern vielmehr darin, das Wort „Liebe“ aus seinen klebrigen Fängen zu befreien. Und dies ist es, was mich einfach begeistert. Denn mir wurde plötzlich klar, dass es genau das ist, was wir alle tun sollten. Aus tausenden von Kanälen wird uns unablässig zugebrüllt, unsere Freude und unser Glück, unsere Liebe, unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Sinngebung würden von dem Abschluss einer bestimmten Versicherung abhängen, von dem Kauf eines bestimmten Autos oder Sofas, vom Schlürfen eines bestimmten Getränkes, vom Essen eines Riegels oder von der Anwendung einer ganz bestimmten Damenbinde. Und wir nehmen das hin und rufen nicht: Bis hier und nicht weiter! Meine Liebe, meine Sinngebung, meine Fragen, mein Verstand, meine Treue, meine Verehrung, die Unschuld meiner Kinder (!), all das ist in einem viel größeren Kontext beheimatet, als das es zur Ware gemacht werden dürfte. Lasst die Finger davon. Ich mache das mit mir selber aus. Und im Gespräch mit meinen unmittelbaren Mitmenschen.
Zum Zwecke der Wiederbelebung unserer Gesprächskultur braucht es also nicht nur den Vorsatz, mittels unseres kritischen Denkens den „schönen Schein“ zu überwinden und der Wirklichkeit wieder mehr auf die Pelle zu rücken. Es braucht auch die Sehnsucht, das Gute und Schöne zurückzuholen in den ureigenen, persönlichen, zwischenmenschlichen Bereich. Wir sollten hier und heute beginnen, mit einer mutigen schrittweisen Rückeroberung der großen menschlichen Gefühle und Gedanken in unser eigenes Leben. Denn wenn wir sie weiterhin der Entstellung preisgeben, so wie wir das in den vergangenen Jahrzehnten gemacht haben, wird es letzten Endes keine Gespräche mehr zwischen uns geben.
5
Die moderne Unverbindlichkeit
Gespräche bergen immer auch das Risiko der Reibung. Ein Gespräch kann zu einer Diskussion oder gar zu einem Disput werden, oder es gibt Momente, in denen fühlt einer der Teilnehmer sich missverstanden oder gar missachtet, und versucht mit Mühe, diese Situation wieder aufzuheben. Oder es gibt Momente, in denen begegnet man Meinungen und Ansichten, die man sogar für schädlich hält. All diese Formen der Reibung sind für uns Menschen der Gegenwart, also auch für mich, sehr schwer auszuhalten. Es lebt in den meisten von uns ein enormer Unwille, in eine soziale Unbequemlichkeit oder in einen sozialen Schmerz hineinzugehen und das Ungelöste, wenigstens für eine Weile, auszuhalten und zu bearbeiten.
Die Anzahl der Konflikte und sozialen Verwerfungen aber steigt weiter. Ich habe das Gefühl, wir verhalten uns diesbezüglich oft so, wie der Mensch, der den Tod durch einen herunterfallenden Ziegelstein prophezeit bekommt und sich dann auf der angestrengten Flucht vor diesem Moment genau dorthin begibt, wo ein solcher Stein zum passenden Zeitpunkt heruntersaust. Auf der Flucht vor unbequemen Themen holen diese uns irgendwie immer ein und viele von uns geraten, trotz der Vermeidungsstrategie, von einer sozialen Pattsituation in die nächste. Es wird wenig moderat gestritten, aber immer häufiger gebrochen, und wir erleben andauernd definitive Aufkündigungen von Zusammenarbeit und Freundschaft, ja, sogar totale Funkstillen innerhalb der Familie.
Unsere moderne Mobilität ermöglicht es uns, uns auf famose Weise immer wieder aus dem Staub zu machen. Kommt es zum Eklat mit dem ein oder anderen Menschen, so gehen wir eben, melden uns nicht mehr,suchen uns andere, neue Orte, andere, neue Leute, andere, neue Arbeitszusammenhänge. Aber die Menschen, die unserem radikalen Harmonieanspruch auf die Dauer genüge leisten, sind schwer zu finden und die eigentliche Einsamkeit wächst daher weiter. Immer seltener trifft man auf langgewachsene Lebens- oder Arbeitszusammenhänge, in denen Widersprüche ausgefochten wurden und in denen man gelernt hat zu sagen: „Und trotzdem halten wir aneinander fest.“ Wir gestehen uns gegenseitig auch nicht ein, unfertig zu sein und uns an unseren Schattenseiten erst noch abzuarbeiten. Wir helfen uns nicht gegenseitig bei dieser mühsamen Arbeit. Um eine solche Zusammenarbeit leisten zu können, für und miteinander, müsste man überhaupt erst mal eine längere Zeit bei einander bleiben.
Zugleich wächst die Sehnsucht nach verlässlichen Beziehungen und haltgebenden sozialen Strukturen bis ins Unermessliche. Wir träumen geradezu obsessiv von einem ‚Leben auf dem Lande‘, zum Beispiel, von Selbstversorgerdasein und Tierhaltung, von einer Kneipe ums Eck, die immer offen hat, von einem wirklich altvertrauten Freundeskreis oder von einem Tante-Emma-Laden, der schon immer da war und auch immer da sein wird. Um diesen Träumen einen kleinen Schritt näher zu kommen, sollten wir vielleicht beginnen, wieder mehr typische Mühen der Verbindlichkeit auf uns zu nehmen, mehr feste, immer wiederkehrende Termine zum Beispiel, oder eine tägliche, selbstgewählte Verpflichtung, die um ihrer selbst willen geschieht. Oder das bewusste Ansprechen und Ausbaden einer zwischenmenschlichen Konfliktlage. Denn unsere moderne Unverbindlichkeit, durch die wir all diesen Dingen geflissentlich aus dem Weg gehen können, erzeugt nicht selten ein chronisches Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit, die uns gar nicht mehr so richtig hoffen lassen auf die Wonnen eines wirklichen Gespräches.
6
Der gestörte Umgang mit Schmerz und Gewalt
Wenn ich schreibe, bekomme ich zwischendurch immer Hunger. Doch heute ist der Gang zum Süßigkeitenschränkchen leider vergebens. Ein Grüppchen aufgekratzter, schaurig zugerichteter Kinder stand gestern Abend vor unserer Tür, drohte zusammenhanglos mit „Saurem“, wenn ich kein „Süßes“ für sie hätte, und kam mir dabei im Grunde ihres Herzens so dermaßen verloren vor, dass ich nicht anders konnte, als alles herzugeben.
Später am Abend erzählte mir eine Freundin, Halloween habe zu tun mit dem jahreszeitgemäßen Nähertreten der Verstorbenen, die mit uns Lebenden ins Gespräch kommen wollen. Ab November „lichte sich der Schleier zwischen den Welten“, sagte sie, also zwischen der materiellen und der übersinnlichen Welt, und wir seien herzlich eingeladen, dorthin zu schauen und über uns selbst und unsere Ahnen nachzudenken. Öffnen wir uns allerdings gar nicht in diese Richtung, so könne das zu „säuerlichen“ Problemen führen…
Mein Gott, dachte ich, wie verarmt wir sind in dieser Hinsicht! Vollkommen selbstvergessen stülpen wir uns Fratzen und blutbeschmierten Kostüme über und lassen es zu, dass unsere Kinder sich mit Totenköpfen und klappernden Skeletten umgeben, nur um uns irgendwie ein bisschen lebendiger zu fühlen. Wir saugen uns voll mit Krimis, Kriegs- und Horrorvisionen und schreien hell auf, wenn ein Kind sich ein Knie aufschlägt. Dieselbe Freundin erzählte mir dann, ein „ganz liebes und herzliches Ehepaar“ in Magdeburg habe gar nicht damit gerechnet, für furchtbare Panik zu sorgen, als sie die kleinen Kinder ihres Viertels in ihrem exzessiv halloweenhaft geschmückten Haus mit einer laufenden Kettesäge (ohne Kette) willkommen hieß.
Mir scheint, Gewalt und Tod sind so weit ins Reich der vermeintlichen Fiktionen abgeschoben worden, dass wir Erwachsene sie gar nicht mehr als real zu empfinden vermögen. Wenn ein amerikanisches Kind, wie ich letztens las, angeblich mit 8 Jahren bereits um die 16 000 „fiktiven“ Morden beigewohnt haben soll, wie sollte es sich dann anders dagegen wehren, als diese Bilder zunehmend in ein Gebiet zu verbannen, das die Überschrift „reine Phantasie“trägt?
Allerdings kann das nur unser Bewusstsein tun, denn unser Unterbewusstsein wird dieser Lüge niemals Glauben schenken. Die Bilder spuken in unserem Unterbewusstsein als Wirklichkeiten weiter umher, davon bin ich tief überzeugt, und fügen unserer Seele realen Schaden zu. Solche Schäden können wir nur erahnen, wenn bestimmte Filme uns jahrelang bis in unsere Träume verfolgen oder wenn wir erleben, wie Menschen, die erst in einem späteren Kindes- oder Jugendalter ins Kino durften, von ihren ersten Erfahrungen berichten. Immer geht es dabei um eine Art von Grauen, welches harte Narbengebilde auf der menschlichen Psyche hinterlässt.
Wie aber ist unser tagesbewusster Umgang mit Leid und Tod? Wir wollen ihn nicht, diesen Umgang. Wir haben das „Fass es nicht an!“ so weit auf die Spitze getrieben, dass es uns selbst in eine Bewegungslosigkeit hineinmanövriert hat, die fast wie tot erscheint. Auf der Flucht vor Tod und Schmerz haben wir unsere Seelen starr werden lassen, kühl und abgeklärt. Und gerade diese innere Starre erzeugt eine unstillbare Sehnsucht nach der Begegnung mit fiktiver Gewalt, als ein Anstoß zu mehr Lebendigkeit, als eine schockartige Erinnerung daran: Wir aber leben! Wir stehen auf der anderen Seite! Wir atmen, sprechen, lachen, rufen! Nicht das Leben selbst bezeugt heute mehr unser Leben, für das wir jede schöne Ausdrucksform verloren zu haben scheinen, sondern nur noch der Tod.
Warum nun aber dieser Exkurs? Weil ein Gespräch auch lebt von der Bereitschaft der Teilnehmer, seelisch in Bewegung zu sein, Schmerzen zu empfinden und (gemeinsam) zu erkunden. Denken ist, wie das Gespräch selbst, auch ein Versuch, das Leidland, wie Rilke es nannte, zu begehen – wenigstens an den Rändern. Es erträglicher zu machen, gemeinsam, und es durch den Versuch des Verstehens und des sinnvollen Deutens aufzuhellen. Das Leidland, aus dem so oft „seliger Fortschritt entspringt“ (Erste Duineser Elegie), weil genau dort die Quellen unseres Bewusstseins und unserer mühsam errungenen Identität verborgen liegen.
Seit der sogenannten Coronaimpfung ist der über Jahrzehnte kultivierte Widerwille, seelische Schmerzen in sich und im Gespräch zuzulassen, noch weiter verfestigt. Man könnte auch sagen: der Widerwille hat sich geradezu verkörpert. Er ist von einer psychischen Kollektiv-Eigenschaft ins Leibliche übergegangen, da wir nicht darüber reden können, was da in den letzten Jahren an Substanzen in uns hinein befördert wurde. Es betrifft jetzt nicht mehr ‚nur‘ eine Reihe von psychischen wunden Punkten, die meistens im Zusammenhang stehen mit den Gewaltgeschichten des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern es betrifft jetzt auch die Wunden in unseren Leibern, von denen wir nicht wahrhaben wollen, dass sie womöglich unauslöschlich sein könnten.
Gerade an dieser Stelle aber, wo die Situation am hoffnungslosesten erscheint und wo ich gewissermaßen aufpralle auf den Boden der Tatsachen, leuchtet mir dieser Boden auch als ein Potential entgegen, nämlich als ein gemeinsamer Boden. Denn wir sitzen, was diese Substanzen angeht, ja im Grunde alle in einem Boot. Genauso wie wir alle weiterhin den Rucksack des Nationalsozialismus‘ schleppen, so wurden auch uns als Menschheit diese Substanzen einverleibt, nur in mehr oder weniger intensiven Graden. Und diese Substanzen haben es, meines Erachtens, auf die drei Ebenen abgesehen, die uns als Menschen ausmachen und die so oder so bereits seit vielen Jahren unter schwerem Beschuss stehen – leiblich auf unser Immunsystem, seelisch auf die Abstumpfung unseres Gefühlslebens, geistig auf die Vernebelung unseres dritten Auges. Wenn wir uns auf die Gesundung bzw. Reaktivierung dieser drei Ebenen konzentrieren, dann überwinden wir vielleicht, irgendwann, auch dasjenige, was bereits lange vor Corona als eine verführerische Illusion übermächtig geworden ist: Die Annahme, wir könnten ein geschichtsloses Leben führen.
7
Die schlimmste Unterstellung
„Schöner Leben ohne Nazis“ – so begrüßte mich letztens ein gerahmtes Plakat an der Tür eines Hauses, in welchem ich zu einem Klassentreffen eingeladen war. „Ja, aber wohin denn dann mit all denen?“, durchschoss es mich spontan. „Wohin??“ Und: „Wer sagt uns denn, wer ‚Nazi‘ ist und wer nicht?“ Und: „Wisst ihr denn nicht, dass auch ich, die ihr hierhin eingeladen habt, es neuerdings sein könnte, zumindest in den Augen einer gewissen Gruppe von Menschen, und vielleicht, wenn es drauf ankäme, auch in den Augen der Mehrheit? Und dann also bald verschwinden müsste, wohin auch immer (?), wahrscheinlich ohne dass ihr es überhaupt merken würdet, aber auf jeden Fall zu dem Zwecke, dass ihr hier weiterhin ‚schön lebt‘?“
An dieser Stelle begegnen wir nun einer der schlimmsten Waffen, die wir Menschen heutzutage bei uns tragen, und die leider immer häufiger gezückt wird, ohne Bewusstsein für die Folgen: Die Beschuldigung, der andere sei im Grunde seiner Psyche „faschistoid“. Die Bereitschaft, den anderen Menschen zu bannen und ihm das Recht auf weitere Teilhabe zu entziehen, auf Grund eines voreiligen, undifferenzierten Pauschalverdachtes, schädigt unsere Gesprächskultur auf entsetzliche Weise. Um dieser Sache weiter auf den Grund zu gehen, möchte ich noch einmal eingehen auf die bereits erwähnte Auseinandersetzung, die ich vor kurzem mit einer alten Bekannten erlebt habe. Per Email übrigens, was vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass dieser Austausch eher einem Aufprall glich, als einem wirklichen Gespräch.
Eine etablierte Schriftstellerin trifft auf eine nicht-etablierte Schriftstellerin, eine Großstädterin auf eine Landbewohnerin, die eine ist „unterwegs in den verschiedenen Diskursen“, wie sie schreibt, die andere ist vor allem chronisch übermüdet von der praktischen Arbeit auf einem Hof. Die eine ist in großen Zügen „Corona-konform“ und mehrfach „geimpft“, die andere ist entsetzt über die Corona-Politik und über die Machtstrukturen, die sie dahinter zu erkennen glaubt. Auf der Suche nach einem Ausweg aus den sämtlichen, scheinbar unerbittlichen Gegenüberstellungen, habe ich mich immer wieder gefragt: Was bleibt denn da als Gemeinsames und Geteiltes eigentlich noch übrig? Was ist hier noch der verbindende Untergrund? Bis es mir irgendwann später, im Nachklang dieser aufwühlenden Konfrontation, plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel: Es ist die Sehnsucht nach dem „Nie wieder“.
Meine Bekannte hat, wie ich selbst, in ihrem bisherigen Leben sehr viel Zeit verbracht mit der Frage: Wie konnte es, im vermeintlich zivilisierten, hochkultivierten Europa, zu solchen Gewaltexzessen kommen, wie das im 20. Jahrhundert der Fall war. Sie hat einige bewundernswerte, genau recherchierte und tief empfundene Romane über dieses Thema verfasst. Für sie liegen die eigentlichen Gründe offensichtlich in dem Aufbrechen primitivster Gefühlsregungen im menschlichen Subjekt: Hass, Neid, Existenzangst, Ressentiment, Egokränkung, Gruppenzwang, Machtgelüste. All diese Gefühle bilden in ihren Augen die hauptsächlichsten Triebfedern zu Krieg, Massenmord, politischer Gewalt. Das rationale, aufklärerische Denken kann, in ihren Augen, gegen diese aufbrechenden Gefühlsgewalten schützen und dem Sozialen und Mitmenschlichen stets aufs Neue den Boden bereiten.
Meine Sicht ist eine andere. Ich habe mich im Laufe meines Lebens intensiv befasst mit dem Schuldig-Werden der sogenannten Intellektuellen, die sich maßgeblich beteiligten an der Erstellung und Implementierung von Konzepten, Welt- und Menschenbildern, die lebensfeindlich und letztlich lebensvernichtend gewirkt haben, (obwohl sie das Gegenteil von sich behaupteten, und bis heute behaupten!) Ich glaubte von Jahr zu Jahr Hannah Arendt besser zu verstehen, die mit der Idee der Banalität des Bösen auf Mechanismen im menschlichen, funktionalen Gehirn aufmerksam gemacht hat, die zu einer drastischen Reduktion des empathischen Vermögens und zu einer schrittweisen Verkümmerung der Fähigkeit zur moralischen (Selbst-) Reflexion führen. Ich glaube, heute mehr denn je, den Kummer der Hannah Arendt nachfühlen zu können, der mitschwang, als sie nach der Machtergreifung Hitlers, der die meisten ihrer alten, intellektuellen Freunde positiv gegenüberstanden, ausrief: „Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an!“
Es gibt eine Art von funktionaler Intellektualität, die, ohne es selbst zu merken, den Bezug zur Wirklichkeit aus den Augen verliert und sich von der Praxis des Lebens und der darin enthaltenen Fülle an Erfahrungen stillschweigend abkoppelt. Der übermäßig beanspruchte Intellekt entscheidet zu Gunsten der schönen Stimmigkeit eines Konstruktes. Und er entscheidet selbstverliebt, an welcher Stelle er sich gegenüber dem Fühlen öffnet, teilweise vielleicht sogar exzessiv, und an welcher Stelle auf gar keinen Fall.
Meine Kritik richtet sich nicht gegen das aufgeklärte Denken an sich, sondern gegen den gefährlichen, schwer aufzuspürenden Kippmoment, der das rationale Denken in etwas Gegenteiliges, Aggressives und sogar Unvernünftiges umschlagen lässt. Um diesen Moment immer wieder ausfindig zu machen, müssen wir zugeben lernen, dass der Wunsch nach Machtergreifung über das Verworrene und nie bis zum Ende zu Klärende, also über das Lebendige, unserem Denken mit zugrunde liegt. Das menschliche Denken ist ein Akt der Machtergreifung. Es muss sich, um funktionieren zu können, ein Stück weit über die untersuchte Materie stellen, und es ist dadurch, jederzeit, in der Gefahr, einem gewissen Hochmut zu verfallen. Es neigt dazu, sich gleitend an die eigenen Werkzeuge anzupassen, vor allem an die kühle Distanz zum Lebendigen. Es muss sich hüten vor dem Anklopfen störender Gefühle, um überhaupt funktionieren zu können. Und das Gefühl, über dem Lebendigen zu stehen, (weil man es durchschaut), will immer weiter gefüttert werden. Die schöne Stimmigkeit der Konstrukte hat einen Suchtfaktor. Sie muss erhalten bleiben, auch dann noch, wenn Widersprüchlichkeiten auftauchen und die Werkstatt des Denkens sich langsam aber sicher in eine Festung verwandelt. Es kommt zu einer Verzerrung des Wirklichkeitsbezuges. Der Intellekt erzwingt die Widerspruchslosigkeit seiner Konstrukte, auf Kosten der Real-Leidenden.
Nun aber ist das Schreckliche, dass ich in meinem Denken dasselbe mit meiner Gesprächspartnerin gemacht habe, wie sie während des Gespräches mit mir. Und damit bestätige ich meine eigene These über das immanente Aggressionspotential des verstandesmäßigen Denkens. Meine Verletzung bestand darin, dass meine Gesprächspartnerin nicht mich und meine Empfindungen mehr wahrnehmen konnte, sondern mich gekonnt in jene Ecken verwies, in der auch all die anderen Menschen sitzen, die ihrer Meinung nach verantwortlich sind für die schleichende Re-Nazifizierung unseres Gemeinwesens. Ich hatte versucht, mich zu erklären, indem ich nur über meine Erfahrungen, Sorgen und Ängste sprach, und so wenig wie möglich über Thesen, kritische Wissenschaftler, Forschungsergebnisse, Statistiken. Ich hatte gedacht, ihr fällt vielleicht über das Persönliche irgendwann wie von selbst auf, dass die Ausgrenzung von „den Ungeimpften“ einem Sturz unseres Wertesystems gleichkommt, und die Vorgehensweise mindesten die Frage nahelegt, ob wir es an dieser Stelle eventuell mit einem Anfang zu tun haben, dem zu wehren wir uns alle einmal vorgenommen hatten, (als es hieß „Wehret den Anfängen!“) Ich bin mit meinem Versuch gescheitert. Weil ich immer empörter wurde über das, was mir von ihrer Seite als eine unterkühlte, extrem distanzierte Haltung vorkam, die ich in Verbindung zu bringen begann mit dem obenzitierten Satz von Hannah Arendt und der Schuldigkeit der bürgerlichen Intelligenz in den Ländern der westlichen Welt, damals und heute. Mit diesem Vorwurf aber, den ich tatsächlich hege, tue ich letztlich nichts anderes als das, was sie mit mir getan hat: Ich nehme sie, als Individuum, nicht mehr wahr, sondern ich fokussiere mich auf meine Unterstellung, es bestünde auf ihrer Seite eine deutliche Affinität zu den intellektuellen Wegbereitern des National-Sozialismus‘. Und das tut, wie ich aus der eigenen Erfahrung der letzten Jahre weiß, entsetzlich weh.
In Dostojewkis Roman Die Brüder Karamasow besteht keinerlei Klarheit darüber, welcher der Brüder am meisten Schuld trägt an dem vollzogenen Vatermord. Selbst den Bruder, der am weitesten von dem Verbrechen entfernt zu sein scheint, durch sein mönchisches Leben und sein tiefes Bedürfnis nach Reinheit, trifft eine gewisse Mitschuld. Denn er hat die Wirklichkeit des Unheils geahnt und im entscheidenden Moment schönredend ausgeblendet. Ich denke, wir alle wissen um den Schrecken der sogenannten Kollektivschuld. Wir wissen um die Gefahr des Wegschauens und Nicht-Wahr-Haben-Wollens, die alle europäischen Länder gleichermaßen trifft, (auch wenn Länder wie die Niederlande dies immer noch leugnen und verdrängen.) Es ist eine entsetzliche Lehre, die wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus ziehen und die zu integrieren uns, verständlicherweise, ungeheure Mühe bereitet. Wir wissen es, und doch können wir es kaum aushalten, dass „moralisch richtig“ im Grunde nur der noch genannt werden kann, der der vollen Wahrheit frühzeitig ins Gesicht zu sehen vermochte, und dann in der Lage war, für andere Menschen das eigenen Leben zu opfern. Ich denke, wir sind traumatisiert von dieser beinharten Tatsache. Und tief in uns steckt immer noch, vor allem anderen, das Bedürfnis, uns „möglichst sauber zu halten“, und „möglichst in nichts mit hinein zu rutschen“. Und gerade dadurch rutschen wir alle mit hinein.
Es wäre hilfreich, wenn wir lernen könnten, den schlimmsten aller Vorwürfe, die vermeintliche Nähe zum Faschismus, nicht allzu schnell und nicht allzu unüberlegt zu äußern. Und wenn wir dann doch meinen, es sei wichtig, dann sollten wir vielleicht zumindest versuchen, unsere eigenen Schwächen und Anfälligkeiten mit in Betracht zu ziehen. Vielleicht bestünde dann eine reale Chance, dass dieser elementare Vorwurf nicht länger das definitive Ende aller Gespräche bildet, sondern endlich den Anfang einer neuen, reiferen Auseinandersetzung.
Ja, ich hoffe tatsächlich, dass wir hier und heute einer Gelegenheit begegnen, uns dem Schatten zu stellen, der uns seit über 80 Jahren begleitet, dem Schatten in uns, in unseren Familien und in unserer Zivilisation. Die Grundvoraussetzung für eine wirklich fruchtbringende Nutzung dieser Chance liegt allerdings – im Gespräch.
P.S. Dieser Text reagiert auf diesen Aufruf von Ulrike Meier und Kenneth Anders. Im Anschluss an diesen Text schrieb Kenneth Anders dieses Gedicht.