13 Jan Rangfolgen beim Begrüßen
Über das Verhältnis von Gemeinsinn und Autorität I
Sehr geehrte Frau Minister, sehr geehrte Bundestagsabgeordnete, sehr geehrte Landtagsabgeordnete, sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Frau Dr. Nummer, liebes Publikum!
So werden heute und schon seit lange Zeit Reden und Ansprachen eröffnet. Es geht der Reihe nach, zuerst wird genannt, wer scheinbar am wichtigsten ist bzw. am höchsten steht, dann staffelt sich das herab, bis am Ende die unterste Ebene als scheinbar homogene Masse schon fast ein wenig kumpelhaft mitbegrüßt wird. Hin und wieder werden noch Ornamente besonderen Entzückens über das hohe Erscheinen angebracht, Ausdrücke der Dankbarkeit und der empfundenen Ehre über den erlauchten Besuch.
Mir gelingt das nicht. Durchaus muss auch ich hin und wieder Ereignisse eröffnen, bei denen Vertreter politischer Hierarchien zu Gast sind. Jedes Mal frage ich mich, ob von mir erwartet wird, diese Vertreter einzeln und nach Rangfolge zu nennen. Letztlich entscheide ich mich meist, diesen Gepflogenheiten nicht zu folgen. In der Regel vergesse ich das ganze Thema in dem Moment, in dem ich vor die Menschen trete und sie anspreche.
Ich habe auch schon Kollegen gefragt: Wo steht eigentlich geschrieben, was hier richtig und angemessen ist? Niemand kann mir das beantworten. Mir ist klar, dass es sich bei der persönlichen Heraushebung politischer Gäste um eine Art Tausch handelt: Der Gast verleiht dem Ereignis durch seine Bekanntheit besonderes Ansehen, dafür wird er im Gegenzug einzeln begrüßt. Das Ritual wurzelt also bereits in der Einladungspolitik. So manche Veranstalter legen sehr viel Wert auf hohen Besuch und wollen ihren Akquise-Erfolg dementsprechend würdigen.
Aber es gibt eben auch Gründe dagegen.
Zunächst wird mit der Nennung nach Rangfolge eine Bedeutungshierarchie herausgearbeitet, die dem wirklichen Leben nicht entspricht. Wer ist schon wichtig? Vielleicht ist der Hausmeister ja am Wichtigsten. Oft ist genau das der Fall!
Außerdem lässt man die hohen Gäste im Verlaufe der Veranstaltung ohnehin zu Wort kommen. Man kann sie zu gegebener Zeit also immer noch begrüßen und einführen. Das mache ich dann auch: Wir freuen uns sehr, dass Herr Wichtig den Weg nach soundso gefunden hat, herzlich willkommen Herr Wichtig, wir danken Ihnen für ihr Grußwort!
Mit der Einladung an Abgeordnete kommt man wiederum eigentlich einer politischen Pflicht nach: Verdankt sich das Ereignis nämlich einer öffentlichen Finanzierung, ist es nur recht und billig, die Vertreter des Volks einzuladen, damit sie sehen können, ob diese Ausgaben auch wirklich im öffentlichen Interesse sind. Bedenke ich es genau, verbietet es sich aus diesem Grund sogar, die Abgeordneten besonders zu begrüßen, denn sie sollten eine gesunde Distanz zu dem Geschehen wahren und sich nicht durch Beweihräucherung einlullen lassen.
Und schließlich habe ich den Eindruck, dass die vehemente Herausarbeitung einer trügerischen Hierarchie dem gesellschaftlichen Miteinander grundsätzlich schadet. Leider fehlt mir der zuverlässige historische Vergleich, aber mir scheint, dass das Begrüßen nach Rangfolgen in den letzten Jahrzehnten zugenommen und somit leider seinen Beitrag zur allgemeinen Erschlaffung der demokratischen Kultur geleistet hat. Immer mehr Leute bedienen diese Erwartungshaltung, von der nicht einmal gesagt ist, dass sie von den Trägern hoher Ämter und Verantwortungen überhaupt mitgebracht wird. Man macht das einfach so, weil man denkt, es müsse so sein. Ohne Not!
Den Amtsträgern wurde ihr Status ja zeitlich beschränkt, als demokratische Verantwortung verliehen. Er verdankt sich einer Mehrheitsentscheidung, also gehen die Ansichten über die Qualität dieser Amtsausübung wahrscheinlich auseinander. Dem Amt gebührt natürlich Respekt. Aber wenn man die Amtsträger schon einzeln in der Begrüßung erwähnt, dann könnte man sie ja auch als letzte erwähnen. Denn zuallererst sind öffentliche Veranstaltungen für die Öffentlichkeit gedacht, also für alle Menschen, die ohne Unterschied und ohne Ansehen der Person vor Ort sind; weil sie sich für eine Sache interessieren, weil sie in dem jeweiligen Bereich oder Betrieb arbeiten oder sonst einen Grund haben, vor Ort zu sein. Diese ganz normalen Menschen sollten meines Erachtens im Mittelpunkt stehen. Also wenn schon, sollte man das Publikum zuerst begrüßen und dann sagen: Begrüßen wir gemeinsam auch die Frau Präsidentin!
Alles in allem, so will es mir scheinen, ist es ein Nachteil, der einer demokratischen Gesellschaft aus der Begrüßungshudelei erwächst. Man schafft unsichtbare Normen, die man gar nicht hinreichend reflektieren kann. Man stärkt die Vertikale auf Kosten der Horizontale. Man schaut nach oben und dekliniert Rangfolgen durch, statt dafür zu sorgen, dass die Menschen einander ins Gesicht sehen.
Deshalb werde ich auch weiterhin Veranstaltungen, die ich verantworte, mit einer ganz normalen Begrüßung an die Anwesenden eröffnen. Auch wenn es manchen peinlich sein mag, ich meine, es ist besser so.
Doch halt, auch diese Logik hat einen Haken. Denn in einer Demokratie sind die gewählten Vertreter des Volkes nicht einfach nur Ausübende eines Amtes, sie haben auch eine soziale Integrationsfunktion. Man kann mit der politischen Arbeit eines Bundespräsidenten unzufrieden sein, aber er ist „unser“ Bundespräsident, womit gemeint ist, dass sich die Gesellschaft als Ganze in ihm auf eine bestimmte Weise abbildet, so fragwürdig das Bild auch sein mag, das sie derzeit abgibt. Diese symbolische Verdichtung ist in Monarchien unübersehbar, aber auch ein politisches Wahlamt trägt noch Züge dieser Sinnstiftung. Indem man es hervorhebt, anerkennt man die Zusammengehörigkeit aller Anwesenden in einer sozialen Form.
Also wäre eine integre demokratische Lösung wohl jene, den Träger des jeweils höchsten politischen Amtes persönlich zu begrüßen und die anderen komplett den sehr geehrten Damen und Herren zuzuschlagen. Auf diese Weise hat man dem Ereignis Sinnstiftung und – durch die Vermeidung von Rangfolgen – eine egalitäre Ansprache verliehen.