29 Sep Reden_10 Reden lernen
Seit Kindertagen interessiere ich mich für Geschichte, weil mich das Gefühl umtreibt, dass wir hineingeboren werden in eine Welt, zu der wir uns verhalten müssen und zwar in einer Weise, die wir oft genug nicht frei bestimmen können. Geboren von unserer Mutter und schon dabei mitgeprägt von unseren Vorfahren und Traditionen, drücken uns die Verhältnisse ihren Stempel auf, ob wir das wollen oder nicht, ob wir es bemerken oder nicht. Das heißt gleichwohl nicht, dass wir in einer Tretmühle aus Genen und Umwelt gefangen sind, denn ein wenig kann man doch aus der Geschichte lernen.
Was uns sicherlich tief eingeprägt ist, ist der Wunsch, dazuzugehören. Zur kleinen Gruppe, zur großen Gruppe, zur Familie. Ob egoistisch oder altruistisch motiviert, dazuzugehören und daher im Miteinander auch mal Fünfe gerade sein zu lassen, um des lieben Friedens willen.
Doch was in toto so viel Frieden und freundliche Familienbande schafft, kann auch ziemlich nach hinten losgehen, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, diesen Frieden aufrechtzuerhalten, weil er sich im Schafspelz des Bösen versteckt hat. Wenn ich so auf meine letzten Jahre schaue, lässt sich über das Reden und das Schweigen im nahen Kreis und in der Gesellschaft, eine ganze Menge erzählen. Letztlich steht da das banale Fazit: Reden blieb Silber, Schweigen war Gold.
Lassen Sie mich eine kurze Geschichte erzählen, an die ich heute noch manchmal denke. Es muss so im Herbst 2022 gewesen sein, und ich erinnere mich, wie ich auf dem Heimweg von der Arbeit ich in der S-Bahn saß. Ziemlich allein trug ich keine verordnete Maske. Es war dabei immer ein ungutes Gefühl, angestarrt zu werden, aber ich ertrug diese schizophrene Kunst der Gesichtsverhüllung nicht, sie peinigte meine Vorstellung von Gesundheit und Intelligenz. Wie gewohnt saß ich also da, als kurz vor einem S-Bahn-Halt sich mir eine gegenübersitzende ältere Frau zuneigte und ich erwartete, wieder mal wegen fehlender Gesichtsverhüllung angeraunzt zu werden. Aber nein. Sie raunte eher, als sie sprach, „Sie glauben gar nicht wie schön es ist, mal wieder ein menschliches Gesicht zu sehen.“ Das hat mich sehr berührt und zugleich ermutigt. Und ich fragte mich, wie viele Leute in dieser S-Bahn im Grunde genau so dachten, wo also die Verhüllung des Gesichts, die verordnete Verschleierung der Mimik nicht einer diffusen Angst folgte, sondern bloßer sozialer Gehorsam war.
Und das erinnerte mich wiederum an eine andere Geschichte vom unausgesprochenen Diktat des Schweigens, die noch ein ganzes Stück länger zurücklag.
Es ist schon einige Jahrzehnte her, mein Vater, ein Gottesmann in atheistischen Zeiten, predigte uns Kindern stets den hohen Wert der Familie. Es gäbe kaum etwas Besseres, vor allem nicht in einer Welt, in der ein übergriffiger Staat mit totalitärer Weltanschauung die klassische Familie für ein bloß bürgerliches Konstrukt hielt, das notwendig dem Untergang geweiht war. In dem Versuch, die klassische Familie auseinanderzubrechen (heute hieße es dekonstruieren) dienten Kinder oft genug als Vehikel der Denunziation und Ideologisierung. Mit Hilfe der Schule wurde auch bei uns versucht, den Kindern die sozialistische Ideologie einzuflößen, um darüber zugleich die Eltern mitsamt ihren Traditionen und Lebensweisen zu maßregeln. Das kindliche Vertrauen in die Familie sollte zerstört und auf das Konstrukt des guten, kümmernden Staates übertragen werden.
Dagegen stand also unsere gar nicht so kleine und auch nicht unbedingt dem väterlichen Familienideal entsprechende Familie, diese Familie mit all ihren Schäfchen und schwarzen Böcken. Die galt es also bei uns hochzuhalten, gegen alle äußeren Widerstände, aber auch gegen alle inneren Antipathien gegen schreckliche Tanten und langweilige Kaffeekränzchen. Die Familie also, die musste es richten in schweren Zeiten.
Was mein Vater damals eigentlich hochhalten wollte, denke ich, war die Sprachfähigkeit zumindest innerhalb der eigenen Verwandtschaft. So, wie irgendwann Anfang der 1980er Jahre, als ein Onkel uns besuchte. Er brachte ein Buch mit, um das sich eine Art atmosphärische Störung aufgebaut hatte. Es lag da bei uns im Flur, es lag da als etwas spürbar Besonderes, aber niemand sprach mit uns Kindern darüber. Ich war gerade irgendwo in der Pubertät und lag, soweit ich mich erinnere, mit einer fiebrigen Erkältung im Bett, wenn auch im Stadium der Genesung. Während die Alten also plaudernd bei Kaffee und Kuchen saßen, griff ich mir heimlich das ominöse Buch und begann zu lesen. An den Titel erinnere ich mich nicht mehr, aber daran, dass es mich nach einer halben Seite auf grausige Weise in seinen Bann zog. Es erzählte von Gewalt, von Vergewaltigung und rohem Sadismus, den Soldaten der Roten Armee am Ende des Krieges an deutschen Frauen verübt hatten. Ich hatte noch nicht lange gelesen, als mein Onkel ins Zimmer trat. Er sah das Buch in meinen Händen und schärfte mir augenblicklich und klar ein, mit niemandem außerhalb der Familie darüber zu sprechen, schon gar nicht in der Schule. Aber ich durfte, ja sollte weiterlesen (was wiederum meiner Mutter aufstieß).
Außerhalb der Familie nicht darüber zu reden, das konnte ich, denn ich war, wie viele andere, getrimmt auf diese doppelte Sprache, hier die offiziell erwünschte und dort die freie Rede im Familien- und Freundeskreis. Um diese Doppelzüngigkeit einer ganzen Gesellschaft wusste jeder, und die meisten beherrschten diesen Spagat.
Und genau das machte mir zu schaffen; dass ich in einem offensichtlich schizophrenen Land lebte, das sich so viel Menschlichkeit auf die blutroten Fahnen geschrieben hatte und es gleichzeitig nicht erlaubte, die gewaltigen Exzesse zu benennen, aus denen dieser Staat entstanden war. Und es ging nicht darum, dass man den Furor der sowjetischen Soldaten nach dem, was viele von ihnen durch die Deutschen hatten erleiden müssen, irgendwie verstand. Aber dass dieses Unrecht nicht benannt werden durfte, weil es vom siegreichen großen Bruder kam, das erschien mir verlogen und eine dauerhafte gesellschaftliche Bürde zu sein.
Dabei hatte ich noch Glück. Meine Eltern haben vieles ausgesprochen, was sich viele nicht zu sagen wagten. Dafür waren sie und wir als ihre Kinder gebrandmarkt, aber als Pfarrersfamilie gab es auch eine Freiheit, die Kirche bot einen gewissen Rückhalt, den mancher Pfarrer nutzte. Eigentlich wurde von uns Pfarrerskindern geradezu erwartet, dass wir irgendwie anders waren, dass wir aussprachen, was sonst nicht ausgesprochen wurde. Zumindest ein bisschen.
Das also war mein Bild von unserer Familie, die übrigens so heterogen war wie andere Familien auch, in der aber der Zusammenhalt groß war, und in der das Einbringen in die Gemeinde, in die Gesellschaft, als selbstverständlich angesehen wurde. Der Glaube an eine Wahrheit, die höher ist als alle Vernunft und menschliche Regierung, galt bei uns als lebens- und bewahrenswerte Tradition. Edmund Burke sagte einmal, „Menschen, die ihre Vorfahren nicht achten, werden auch nicht an ihre Nachwelt denken.“ Und tatsächlich, und letztlich unerwartet, überstand unsere Tradition diese Regierung mit ihrem Staat, der sang- und klanglos verschwand.
Heute, wenige Jahrzehnte später, wiederholt sich, was mir undenkbar und in die Tiefen der Historie verbannt schien. Da treten 2020 diese merkwürdigen Gestalten in allen Medien auf und erzählen uns vom drohenden viralen Weltuntergang, den Kinder an ihren Großeltern verschulden. Unangenehme Philanthropen wollen technizistisch die Welt retten, die ganze wohlgemerkt. Aber es ist nicht stimmig, diese ganze Geschichte vom Weltuntergang, diese apokalyptische Hysterie, diese maßlose Übertreibung inszenierter, hässlicher Bilder, dieser Furor, als ginge es gegen den Leibhaftigen, dabei geht es gegen das Lebendige.
Aber für mich bleibt das Erschütternde, dass sich rundherum und überall so verdammt viele, auch vertraute Menschen davon angesprochen fühlen. Sie fangen genauso an zu sprechen, in diesen Phrasen und leeren Begriffen, gefolgt von den redundanten, sich widersprechenden Verhaltensweisen. Wo ich nicht mitmache, wird aus einem mitleidigen Lächeln bald Verständnislosigkeit. Und ich frage mich: Wie kann man diese Geschichten glauben? Es ist, für mich, so offensichtlich falsch, alles.
Und dann, als schüttele man eine Schneekugel, verändern sich die Konstellationen auch um mich herum. Viel zu viele verschwinden, tauchen ab. Hinter Phrasen, Ängsten, Nachplappern und hämischem Gelächter gegen die da. Also gegen mich und gegen manche, die ich erst jetzt kennenlerne oder wieder kennenlerne.
Und ich frage mich, was hatte meinen Vater damals dazu gebracht, die Familie als Ort der freien Rede zu preisen und damit zugleich eine persönliche Kraftquelle zu haben? Ich kann mit ihm leider nicht mehr darüber reden und kann es nur vermuten, aber ich glaube, es ist die unbedingte Bindung, das Vertrauen, das mit der Unumstößlichkeit einer familiären Bindung im besten Falle einhergeht. Mit Karl Kraus: „Das Wort „Familienbande“ hat einen Beigeschmack von Wahrheit.“ Bande binden, und Banden haben ein eigenes Wertekorsett, das sie gegen andere abgrenzt und beschützt. Das allein reicht sicherlich nicht aus, um gelingende Gespräche zu führen. Mit manchen aus der Familie und darüber hinaus spreche ich mittlerweile aber über vieles, was vor Jahren noch undenkbar schien; mit anderen beschränkt sich das Gespräch dagegen nur aufs Alltägliche. Das ist nicht immer schön, aber es ist eine Möglichkeit und manchmal ein Anfang. Hoffe ich jedenfalls.
Anderseits. Andererseits gibt’s auch das Neue, das erst durch die Gesprächsverweigerung der letzten Jahre entstanden ist. Gestern bin ich mit ein paar Leuten, von denen ich die meisten nur vom Sehen kannte, mitten im Dauerregen auf einem kleinen Feldweg spazieren gegangen. Das Ziel war eine Dorfkirche, alt, ehemals ehrwürdig, ein Pilgerort in einer abgelegenen Gegend. Prasselnder Regen, Kinderlärm, nasse Schuhe und Hosen, Hagebutten und Walnüsse am Feldrain. Ein Vater schiebt seinen Kinderwagen mühsam über den holprigen Rasen. Ich geselle mich zu ihm und wir kommen ins Gespräch. Es dauerte nicht lange, so wie es seit geraumer Zeit nirgendwo mehr lange dauert, bis man auf den Punkt kommt, bis man über unser Leben in einer sich dramatisch verändernden Gesellschaft spricht. Und es ist erstaunlich, wie schnell sich der Gesprächsfluss entweder wie in ein gewaltiges Delta ausbreitet, oder wie schnell er in eine Wüste zu führen scheint, in der die Worte verdorren und das Gespräch versandet.
Aber gestern war der Regen fruchtbar. Das Gespräch gedieh so schnell, wie ich es von früher nicht kenne. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass der Druck auf gelingende Gespräche, also auf freies, offenes Reden und Zuhören, auf Vertrauen in den anderen, enorm gestiegen ist. Und ich glaube, dass diese Gespräche – trotz des anhaltenden Schweigens – eine Tiefe erreichen, die das verordnete Schweigen auch dieses Mal am Ende untergraben werden. Wenigstens bis zum nächsten Mal.