07 Mrz Der dunkle Grund von Bullerbü
Oder: Warum es Not tut, die Romantik zu retten
Ein Essay zur Osterzeit
Einleitend
Manche Redensarten können gleich nach ihrer Geburt laufen. Sie scheinen, einmal ausgesprochen, geradewegs in die Köpfe der Menschen hinein zu springen, hocken dort für eine Weile in der vordersten Reihe und werden immer wieder hervorgeholt und genutzt. Was genau es ist, was sie plötzlich so beliebt macht, scheint schwer zu sagen. Sie wirken irgendwie griffig und scheinen etwas Gegenwärtiges auf den Punkt zu bringen. Schaut man allerdings genauer hin, fällt oft auf, dass niemand ihre eigentliche Substanz prüft.
Einem solchen inflationären Gebrauch anheimgefallen scheint neuerdings das Bullerbü-Gleichnis. „Abschied von Bullerbü“ müsse man nehmen, oder „Bullerbü-Vorstellungen überwinden“, zum Beispiel wenn es um die Umgestaltung des ländlichen Raumes geht, im Dienst der Großoffensive „Energiewende“. Die Autorin Tina Veihelmanns erinnerte mich in ihrem Blog-Artikel Opfer, über die niemand spricht daran, dass ich in letzter Zeit des Öfteren über dieses Bild gestolpert war. „Wir sind hier nicht in Bullerbü!“ sagte vor kurzem noch eine Mutter beim Elternabend – und als leidenschaftliche Lindgren-Verehrerin spürte ich erneut, dass etwas faul war. Ich dachte darüber nach und schrieb den ersten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes über das Buch Wir Kinder von Bullerbü.
Doch dabei konnte es nicht bleiben. Denn hinter dem Unverständnis gegenüber Astrid Lindgrens Kunst entdeckte ich auf einmal, was eine menschliche Kultur eigentlich ausmacht (Abschnitt 2). Und dahinter stieß ich auf eine der Grundvoraussetzungen menschlicher Individuationsprozesse (Abschnitt 3). Und aus dem Verständnis für diese Grundvoraussetzung ergab sich eine andere Sicht auf die sogenannte „Romantik“ (Abschnitt 4), als die bisher gewohnte.Dass diese Darstellungen allesamt etwas mit der Osterzeit zu tun haben, ist mir dann im Laufe des Schreibens bewusst geworden und die dazugehörige ‚Auferstehungsperspektive‘ findet sich denn auch im fünften Abschnitt mit Hilfe von Franz Schubert.
1. Astrid Lindgren und die Verortung eines lebenswerten Lebens am Rande des Abgrundes
Dass wir es in dem Buch Wir Kinder aus Bullerbü mit keinem oberflächlichen, verblendeten Idyll zu tun haben, merkt man eigentlich bereits auf den ersten Seiten. Wie in allen Büchern der Astrid Lindgren entrollt sich gleich zu Beginn eine vielgestaltige und tiefsinnige Motivwelt, wie ein großer Teppich, der schon an den ersten Zentimetern seinen hohen Wert zu erkennen gibt. Da bekommt ein Mädchen zu ihrem siebten Geburtstag ein eigenes Zimmer geschenkt, vom Vater eigenhändig möbliert, durch die Mutter mit Flickenteppichen, Tapeten und Vorhängen versehen. Vorher dachte sie noch mit kurzem Schreck, sie würde vielleicht gar nichts bekommen, da keine Päckchen zu sehen waren. Auch verbindet der Papa vorher noch ihre Augen und trägt sie einmal hinaus und wieder hinein, sodass sie kurz nicht weiß, wo sie sich befindet. Dann, wenn sie überglücklich ihren neuen Schrank einräumt, sagen die Brüder, sie würden trotzdem weiterhin regelmäßig zu ihr herüberkommen, um Spukgeschichten zu erzählen. Und dann, im Laufe des Geburtstages, wird einerseits mit Kuchen und Limonade die wunderbare neue Behausung, das herrliche Eingefriedet-Sein, gefeiert, andererseits spielen die Mädchen, sie seien in eine Art Turmgemach gefangen und würden von furchterregenden Drachen belagert und bewacht.
Willkommen in der Welt von Bullerbü. „Da wird für eines Augenblickes Zeichnung, ein Grund von Gegenteil bereitet“ heißt es in Rilkes vierter Duineser Elegie, und Astrid Lindgren zeichnet ihn, in jedem einzelnen Kapitel. Es gibt bei ihr keine Leichen im Keller, über die eine „künstlich heile“ Welt krampfhaft hinwegtäuscht, sondern es wird immer genau gezeigt, was in der kunstvoll ausbalancierten Welt einer glücklichen Kindheit passiert, und was eben gerade nicht. Kein Kapitel funktioniert ohne Seitenblick in die Nacht, keine Bedrohung, kein schweres Thema bleibt unberührt. Nur keines kommt eben an gegen die Übermacht der Freude und der Liebe. Tod, Trauer, Gewalt, Schmerzen, Wut, Einsamkeit, Heimatlosigkeit: Sie alle bilden den ‚Grund von Gegenteil‘, der immer wieder geschrappt wird, und vor dem man, immer wieder, auf wundersame Weise behütet bleibt.
Da sind die grausigen Geschichten des Großvaters über Backenzähne, die ihm als Kind mit der Schmiedezange gezogen wurden, und seine Erfahrungen als Waisenkind bei Menschen, von denen er fortlaufen musste. Aber der Großvater sitzt in seinem Schaukelstuhl und ist zu jeder Zeit voller Liebe und inniger Heiterkeit. Da ist der Tod, über den Lisa und Inga bitterlich weinen als ein Lamm stirbt, und über den sie dann hinweggetröstet werden durch ein anderes, lebendiges Lamm. Da ist der Tod, dem Lasse entkommt, indem die Kinder ihn aus dem Eisloch ziehen, oder indem er den bösen Schafbock austrickst, oder indem er nach dem allzu hohen Sprung und der kurzen, totalen Erstarrung dann doch noch Beine und Arme bewegen kann. Da ist die sogenannte „Hand des toten Mannes“ in der Klippenlandschaft oder die Stelle, die so steil und schmal ist, dass man, wenn man hinunterfallen würde, „nur noch in einer Schubkarre nach Hause“ gefahren werden könnte. Da ist die Gewalt der Natur, die zur Flucht in Kristins Waldhaus nötigt, wo es dann auf einmal Waffeln und Katzenbabys gibt, oder da ist der Schneesturm, der einmal kurz mit dem Erfrierungstod droht, bis man bei dem verbitterten Schuster unterkommt, der die ganze Zeit kein Wort mit den verhassten Kindern redet. (Irgendwann taucht der Vater mit dem Schneepflug auf, fährt die Kinder aber nicht direkt nach Hause, obwohl er sich sehr freut, sie zu sehen. Er ruft ihnen zu, er mache noch den Weg bis nach Storbü frei, um sie dann auf dem Rückweg abzuholen…) Da ist die Angst vor dem dunklen Wald, gegen die die Kinder ansingen, da ist die abgründige Angst vor dem Wassergeist in der Nacht, der sich schließlich als Lasse entpuppt, der mit der Angst der anderen zu spielen weiß. Da ist ebenjener gewalttätige Schuster Nett, der das Gegenteil seines Namens verkörpert und dessen verprügelter Hund von den Kindern getröstet, gezähmt und gerettet wird. Da ist das kleine Baby, dass so hässlich und verschrumpelt auf die Welt kommt, dass die Kinder ganz entsetzt sind, und da ist das kleine, einjährige Kind, dass sich überhaupt nicht hüten lässt, weil es immer wieder schreit und nur Chaos anrichtet. Da ist der von der Lehrerin adaptierte moralische Vorsatz der Mädchen, „immer gut und hilfreich“ sein zu wollen, der komplett scheitert und erst dann gelingt, wenn sie gerade gar nicht daran denken. Da ist die Höllenangst von Ole vor dem Zahnziehen und der Schreckmoment mit dem alten Gebiss des Hausmädchens, was nebenbei einen Blick in die einsame Körperlichkeit dieser Frau wirft. Da ist die schwere Nacht auf dem Heuboden, die um fünf Uhr morgens im eigenen Bettchen endet mit der Konstatierung, wie genial der Mensch gewesen sein muss, der das mit den Betten erfunden hat. Da ist der plötzliche Wunsch der Mädchen, einmal von zuhause wegzulaufen, nur um einmal erlebt zu haben, wie das ist. Und da ist überhaupt ein ständiges motivisches Spiel mit Abenteuer und Grauen des Außerhalb-Seins, gegenüber Enge und Geborgenheit des Drinseins.
Ja, es ist eine schöne, strahlende Welt, dieses Bullerbü, aber niemals ohne Tiefe und Mehrdimensionalität. Es ist eine glückliche Welt, weil der ‚Grund von Gegenteil‘ gezeigt und gemäßigt wird, von liebenden Eltern und kreativen Kindern. Das Dorf und das Leben dieser Menschen, so wie Astrid Lindgren es in ihrer eigenen Kindheit erleben durfte, schwebt gewissermaßen über dem Abgrund. In seiner schlichten Tatsächlichkeit hat es etwas Starkes und Ewiges, andererseits aber auch etwas sehr Verletzliches. Denn gerade Astrid Lindgren wusste Bescheid über die vielen Bedrohungen Bullerbü-ähnlicher Verhältnisse, und gerade sie hat ihr Leben lang darum gerungen, oberflächliche Verklärungen zu meiden und das reale Leben, auch in diesem Buch, immer wieder zu Wort kommen zu lassen.
Denke ich an Bullerbü, so denke ich an das wunderschöne Bild aus der Dritten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke, in welcher die Mutter die Kerze nicht irgendwo in die Finsternis stellt, (wodurch diese sich nur weiter verdunkelt), sondern selbstbewusst in die Nähe ihrer eigenen Person, welche Ruhe, Vertrauen, Zuversicht, Liebe auszustrahlen vermag: „Mutter, (…) du warst, die ihn anfing;// dir war er neu, du beugtest über die neuen// Augen die freundliche Welt und wehrtest der fremden.// Wo, ach, hin sind die Jahre, da du ihm einfach// mit der schlanken Gestalt wallendes Chaos vertratst?// Vieles verbargst du ihm so; das nächtlich-verdächtige Zimmer// machtest du harmlos, aus deinem Herzen voll Zuflucht// mischtest du menschlichern Raum seinem Nachtraum hinzu.// Nicht in die Finsternis, nein, in dein näheres Dasein// hast du das Nachtlicht gestellt, und es schien wie aus Freundschaft.“
Und nicht nur mit den Bullerbü-Geschichten mischt Astrid Lindgren ‚menschlicheren Raum unserem Nachtraum hinzu‘. Nein, im Grunde tut sie es mit all ihren Büchern. Bei den Kindern aus Bullerbü sind die Schattengestalten, die nach dem freudvollen Leben greifen, nur am zuverlässigsten gebändigt und auf Abstand gehalten. In den meisten anderen Büchern werden die Abgründe genauer ausgeleuchtet. Da ist das immer wiederkehrende Motiv der Armut und der sozialen Ungerechtigkeit, welches zum Beispiel bei Madita geradezu beißende Formen annimmt. Da sind in vielen Geschichten verstorbene Eltern oder Geschwister, und da sind ratlose und scheiternde Väter. Da gibt es verbissene Grabenkämpfe und Begegnungen mit dem Bösen, in allen Variationen, da begegnen wir Kindern in Not, Verlassenheit und in großer Bedürftigkeit, da gehen geliebte Tiere oder Menschen (fast) zugrunde, und da werden unschuldige Wesen beschuldigt und gequält. Und in einer der genialen Erfindungen der Astrid Lindgren, dem fliegenden, dicken Männeken Karlsson von Dach, treffen wir auf eine Verkörperung des psychologischen Schattens oder Doppelgängers, als eine Anhäufung von sozial unpraktischen und geächteten Eigenschaften auf ein abgespaltenes, egomanes Eigenwesen, zu dem es eine Beziehung aufzubauen gilt, die letzten Endes, trotz aller Strapazen, für alle Beteiligten nicht unfruchtbar bleibt.
2. Kultur: ein reifes Spiel mit Licht und Schatten
Als ich vor Jahren aus den Niederlanden nach Deutschland zog, sagte hierzulande noch kein Mensch: „Alles gut.“ Jedenfalls nicht in meinem damaligen Umfeld. In Holland verwendete man die beiden Wörtchen andauernd, in Analogie zu der Frage: „Wie geht es dir?“ Man fragte also ständig: „Alles gut?“ Ich habe es immer als unangenehm und unauthentisch empfunden, meinem Gegenüber permanent versichern zu müssen, „ALLES“ sei gut. Ich hatte das Gefühl, als spiegele sich in dieser Redensart unser gegenwärtiges Verlangen nach einer totalen Reibungslosigkeit im sozialen Miteinander, ja im Leben überhaupt, und dieses Verlangen erlebte ich als eine zunehmende Amerikanisierung der niederländischen Kultur.
Wie enttäuscht war ich dann, als irgendwann in meinem zweiten oder dritten Jahr in Berlin die Deutschen um mich herum ebenfalls anfingen, „alles gut“ zu sagen, nicht einmal als Frage, sondern sogar als voreilige Versicherung: „Nein, nein, ich bin ganz auf deiner Seite! Nein nein, ich wollte dir nicht in die Quere kommen! Nein nein, ich habe keine Vorwürfe, bin mit dir vollkommen d’accord!“ Sind wir in Deutschland ebenfalls in einer Art pathologischen Harmoniezwang angelangt, wie das meines Erachtens in Holland seit langem der Fall ist? Und erzeugt nicht gerade solch ein Zwang letzten Endes die schlimmeren zwischenmenschlichen Verwerfungen?
„Wir sind hier nicht in Bullerbü“ scheint mir eine Aussage, die sogar zutrifft, wenn man damit meinen würde, dass wir keinen fruchtbaren Umgang mit Schmerz und Leid zu pflegen wissen und es nicht schaffen, angenehme, ja, ‚schöne‘ Räume für uns und unsere Kinder herzustellen, in denen es sich zu leben lohnt, trotz der lebensinhärenten und notwendigen Schattenseiten. Gleichzeitig aber will das Paradoxon, dass wir selber in genau der Atmosphäre einer unechten, forcierten Positivität leben, die wir der Bullerbü-Welt fälschlicherweise unterstellen. Mit dem kummervollen Ausruf: „Wo, ach, hin sind die Jahre, da du ihm einfach// mit der schlanken Gestalt wallendes Chaos vertratst?“ möchte ich daher fragen: Wohin ist denn unsere Fähigkeit, mittels unserer kulturellen Anstrengungen das Furchterregende zu mildern, den Schmerz zu lindern, das Grenzland gemeinsam zu bewandern? Wenigstens ein Stück weit? Wohin ist unser Vermögen, Ankerpunkte zu finden in dem Gebiet zwischen den Bastionen unserer vermeintlichen, hellen Sicherheit und dem totalen Ausgeliefertsein? Wenn wir nicht einmal mehr sehen können, welch wundervolle Gesichtszüge Astrid Lindgren uns in dem selbstentzündeten Licht ihrer Werke entgegenhält, wie weitgehend haben wir dann den Bezug verloren zu dem, was überhaupt ‚Kultur‘ ausmacht?
Auch unser derzeitiges Distanzierungs-Spektakel bezeugt dasselbe Unvermögen, uns reibungsvollen, schwierigen Prozessen zu stellen, deren Ausgang immer offen ist. Ähnlich wie ein Kind ein problematisches Verhalten niemals überwinden kann, wenn der erziehende Erwachsene die Kritik am Verhalten nicht klar unterscheidet von der Hochachtung für den Wesenskern, so beruht auch jede positive Weiterentwicklung im Zwischenmenschlichen auf der Bereitschaft, dem scheinbaren Kontrahenten seine Menschlichkeit nicht abzusprechen. Mit jeder Leugnung eines begehbaren Überganggebietes zwischen uns und dem Anderen, den vermeintlich Richtigen und den vermeintlich Falschen, den vermeintlich Guten und den vermeintlich Bösen, vergrößern wir die umschifften Abgründe und verlieren innerhalb der Reste unseres ‚Zivilisationsbunkers‘ jedwedes Tiefenprofil. Die Wirklichkeit, die wir auszugrenzen suchen, ereilt uns dann von innen heraus, oder hinten herum – eine alte psychologische Gesetzmäßigkeit. Es gibt keine hochwertige Kultursphäre, weder künstlerisch noch spirituell noch sozial, wenn wir nur noch damit beschäftigt sind, mit Eddingstiften und Flatterbändern zu markieren, was wir angeblich alles nicht sind, womit wir angeblich alles nichts zu tun haben. Die mutige Erkundung der Verhältnisse zwischen Licht und Schatten, Oben und Unten, Verzweiflung und Glück, Drinnen und Draußen, Gut und Böse, Einsamkeit und Gemeinschaft, ist eine Vorbedingung für das Gedeihen von Kultur, und nur eine solche offene Erkundung bietet uns die Möglichkeit, Auswege zu entwickeln aus dem Zwang zur Gegenüberstellung, neue Zugänge zu finden zu einem belebten Zwischenraum, einem verbindenden Untergrund oder einem vereinenden Überbau.
3. Identität entsteht durch Schmerzen (Beispiel: Goethe)
Auch für menschliche Individuationsprozesse ist der Gang in die Gefahrenzone tatsächlich eine Grundbedingung. Begeben wir uns niemals in solche Gebiete hinein, so berauben wir uns der Möglichkeit, eine eigenständige Identität zu entwickeln. Es handelt sich eigentlich um ein ganz altbekanntes Gesetz, bezeugt in tausenden von Märchen und Mythologien. In einer herkömmlichen Einheit entstehen Brüche, eine anfängliche Geborgenheit erfährt eine Bedrohung oder Irritation, das Individuum zieht hinaus in die Fremde um zu suchen nach den Gründen des Verlustes, nach der Bedeutung des Schmerzes, nach der Bewältigung des Chaos‘. Der Suchende findet vielleicht Verbündete, wird aber oft auch enttäuscht und lernt, dass man „alles Schwere alleine tut“ (Hesse). Was aber den Suchenden vor allem erhält und vorantreibt ist das Wissen um die Notwendigkeit des Prozesses, oder wenigstens die tiefe Ahnung von der Wahrscheinlichkeit einer verborgenen Botschaft des Schmerzes. Verlieren wir diese Ahnung, so sind wir meines Erachtens in der Gefahr, das zu verlieren, was unser Menschsein, oder besser: unser Mensch-Werden, im Kern ausmacht.
Auch Johann Wolfgang von Goethe hat das Durchleben der Gefühle von Schmerz und Verzweiflung als eine Voraussetzung für Lebendigkeit und Glück erfahren. Manfred Osten schreibt über ihn: „Deutlich wurde, dass Goethes Strategien des Glücks der Versuch sind, »Regenbögen« zu schaffen vor »schwarzgrauem Grund«. Und zwar als Strategien einer übungs-verpflichteten Selbstüberwindung und Selbsterziehung aus dem Geist der Verzweiflung.“ (Manfred Osten, »Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!«, S. 104) An den jüngsten Sohn der Charlotte von Stein schrieb Goethe: „Unglück bildet den Menschen und zwingt ihn sich selber zu kennen, / Leiden gibt dem Gemüt doppeltes Streben und Kraft.“ (aus: Manfred Osten, S. 106).
Auch an Goethes Werdegang können wir den Zusammenhang deutlich erkennen. Seine erste künstlerische Selbst-Erzeugung entstand durch das Erleben eines Liebesdesasters. In Die Leiden des jungen Werthers beschrieb er einen dramatischen Selbstverlust, und fand eben dadurch zu einer eigenständigen Sprache für sein individuelles Inneres. Der Selbstmord des Alter-Egos wurde zum Geburtserlebnis des Autors, ohne welches die restliche Laufbahn nicht gewesen wäre. Außerdem hat Goethe mit diesem Werk, obwohl er dann später als der große Übervater der Deutschen Klassik gehandelt wurde, die sogenannte „Romantik“ zum Leben erweckt.
4. Von den vergessenen Grundanliegen der Romantik (am Beispiel der Schönen Müllerin von Franz Schubert)
Wie auch immer es geschehen konnte, dass das Wort „Romantisieren“ sich entwickeln durfte zu einem Synonym für das Wort „verklären“ – wir haben es jedenfalls zu tun mit einer Fehlentwicklung, einer Entfremdung. Denn jedes „romantische“ Werk zeugt in erster Linie von einem Verlust des Einklangs zwischen Ich und Welt, von einem Riss zwischen Innen und Außen, Mensch und Natur, Mensch und Himmel, Mensch und Gesellschaft, Mensch und Mensch – einem Riss, der in den meisten Fällen unüberwindlich bleibt. Der sich aufmachende, wandernde, entwicklungshungrige Mensch prallt ab an der harten Realität des Getrenntseins, der Einsamkeit des Individuums, der Entfernung zwischen Realität und Ideal. Klar, seine mühsame Suche gilt der Wiedererlangung einer Übereinstimmung auf einem höheren Niveau, und es blitzen auch immer wieder geheimnisvolle Anzeichen eines möglichen Gelingens dieser Bestrebung auf, aber in den allermeisten romantischen Werken scheitert der Suchende und endet im Tod.
Eine “Romantisierung“ wäre demnach, wörtlich genommen, eigentlich keine „Verklärung“ (die, wörtlich genommen, der Aufklärung zu zu ordnen wäre!), sondern vielmehr eine Vertiefung, und zwar um die Dimension des Verlustes der Übereinstimmung und der schwierigen Suche nach neuen Formen von Verbundenheit. Man könnte diese Art der Vertiefung auch eine „Schattierung“ nennen, im Sinne Paul Celans, wenn er schreibt: „Gib deinem Spruch auch den Sinn://gib ihm den Schatten. // Gib ihm Schatten genug, //gib ihm so viel,//als du um dich verteilt weißt zwischen//Mittnacht und Mittag und Mittnacht.“ (Paul Celan, Sprich auch du)
Nehmen wir die Schöne Müllerin von Franz Schubert, nur als ein Beispiel für die fehlerhaften Vorstellungen von der Romantik. Allein schon der Titel und der Name des Komponisten löst ja in den meisten von uns eine ganze Kettenreaktion von Vorurteilen in Bezug auf die Romantik aus. (Ich weiß, dass Schuberts Kompositionstechnik zum Teil der Klassik zugeordnet wird, aber diese Zuordnungsschemata scheinen mir, wie im Falle Goethes, rationalistische Vereinfachungen, in denen zu vieles verloren geht.) Worum es hier vor allem geht, ist das Missverständnis, es handle sich bei der Schönen Müllerin, genauso wie übrigens in der Bullerbü-Allegorie, um eine der modernen Realität entgegengesetzte Welt des schönen Scheins und des seichten Einklanges zwischen Mensch und Natur, wie auch um eine sentimentale, subjektivistische Überbewertung einer im Grunde banalen Verliebtheit. Wer das Material aber wirklich zu Wort kommen lässt, wird sofort herausfinden, dass diese Annahmen schlicht nicht stimmen. In fast allen Liedern geht es nämlich gerade um die Kluft, die den jungen, suchenden Menschen von der ihn umringenden Natur trennt, auf recht unüberwindliche und hochmoderne Weise. Nur das erste Lied scheint noch eine gewisse Übereinstimmung anzudeuten, droht aber in dem unabänderlichen Gepolter der Basslinie und dem fanatischen Geratter des Mühlenräderwerkes bereits mit zukünftigen Zermalmungen.
Ansonsten bittet der Mann, um dessen Entwicklung es hier geht, verzweifelt um verständliche Zeichen von Seiten der Natur, die er irgendwie deuten und sich zu eigen machen könnte, statt der vielen unverständlichen Angstmacherei und des tiefen, tiefen Schweigens. Er beschwört die Natur vergeblich, der geliebten Müllerstochter passende Botschaften zu übermitteln, er drängt der Natur Bedeutungen auf, die mit den Haaren herbeigezogen wirken, er schimpft mit ihr und wirft ihr vor, dass sie einfach immer weiter nur ihr Ding macht und sich keinen Deut um ihn zu scheren scheint. Oder er fleht inständig um ein wenig Ähnlichkeit zwischen dem, was sich in seinem Inneren abspielt und dem, was die Natur zu leben scheint. Aber er bekommt nichts von dem, was er ersehnt. „Ich frage keine Blume, ich frage keinen Stern, sie können mir alle nicht sagen, was ich erführ‘ so gern. Ich bin ja auch kein Gärtner, die Sterne stehn zu hoch; (…)“.
Auch die Annahme, es handle sich nur um ein pubertäres Hineinsteigern in das körperliche Verlangen nach einem Mädchen, wird der Angelegenheit gar nicht gerecht. Es geht, wie bei Goethes Werther, vielmehr um die Frage, ob der junge Mensch, nachdem er absichtlich aus den althergebrachten, von ehemaligen Autoritäten hergestellten Bezügen herausgetreten ist, zu einer neuen und eigenständigen Beziehungsaufnahme zur Welt gelangen kann, oder eben nicht. Und das Scheitern wird mit nichts weniger als mit dem Tod durch Selbstmord bezahlt, damals wie heute. (Heute außerdem zahlenmäßig in einem erschütternden Ausmaß.) Die Person der Geliebten ist ein Sinnbild für die Welt, die den einzelnstehenden, individuell bereits klar umgrenzten Menschen nicht aufzunehmen vermag, weil dieser den Schlüssel nicht findet. Ihm fehlen auch die Fähigkeiten, etwa wie ein kundiger Gärtner in Verbindung zu treten, oder wie ein weiser Erkennender die Sprache der Sterne zu verstehen. Es geht um die Sehnsucht nach Beheimatung und Zugehörigkeit, ohne Selbstaufgabe. Und es ist diese Sehnsucht, die sich gewissermaßen an dem Objekt der Liebe bricht. Aber das Objekt der Liebe verhält sich wie die übrige Welt auch: Es entzieht sich.
Vielleicht weil es kein „Objekt“ sein will? Sondern das Verlangen verspürt nach einer eigenen, subjektiven Stimme?
Wie die Natur auch?
Die künstlerischen Werke, die zur Romantik gezählt werden, erzählen einerseits von der Geburt des Individuums aus der Verzweiflung heraus, und andererseits von der Suche nach der subjektiven Seite der natürlichen Welt, die durch die rationale Objektivierungstechnik des wissenschaftlichen Materialismus unterdrückt und zum Schweigen gebracht wird. Beide Themen sind aktueller denn je und haben mit „Verklärung“, oder mit der Verdrängung von Realitäten, nicht das Geringste zu tun. Vielmehr hege ich den Verdacht, dass die moderne Wissenschaft und Journalistik diesen wahren, dynamisierenden Gehalt der Romantik seit Jahrzehnten aus unserem Bewusstsein zu eliminieren sucht.
5. Das eigentliche Neuland: noch einmal Franz Schubert
Wie das oft so ist, wird der aufrichtig Liebende der Schönen Müllerin vom gängigen Spiel zwischen Leben und Tod gewissermaßen untergepflügt. Er selbst beschreibt sein zukünftiges Grab als ein anonymes: „Kein Kreuzlein schwarz, kein Blümlein bunt, grün, alles grün so rings und rund!“ Das abwesende Kreuz markiert das Fehlen eines Bewusstseins der Nachwelt, und die nicht vorhandenen Blumen das Fehlen irgendeiner seelischen Regung in Bezug auf diesen Verstorbenen. Werden die Kernthemen der Romantik – die Trauer über den Verlust der wahrhaftigen Übereinstimmung, die Sehnsucht nach einer neuen, individuell geprägten Verbundenheit, die Suche nach der seelisch-geistigen Dimension der Welt – womöglich genau wie dieser Verstorbene verdeckt durch eine dicke Grasmatte der Vergessenheit? Und sorgen die Stempel, die der Romantik heute aufgedrückt werden, nur immer weiter dafür, dass man diese Themen gar nicht ernst nimmt, ja, dass es sogar verboten zu sein scheint, sie überhaupt noch wahr zu nehmen?
Verharren wir in der vermeintlich aufgeklärten, ironischen Distanz, so bleiben Romantik und Neoromantik jedenfalls ein Buch mit sieben Siegeln. Wir können ihren eigentlichen Gehalt aus einer solchen Haltung heraus gar nicht erkennen. Wir sehen nur die Schalenwand, die Worthülsen, die gefühlvollen Ausdrucksweisen für psychedelische Bedrängnis. Was aber geschieht, wenn man die Distanz überwindet und den Inhalten der Romantik mit denkbereiter Zuwendung entgegentritt, ist etwas Außergewöhnliches. Das achtzehnte Lied der schönen Müllerin von Franz Schubert schildert es und soll hier aus diesem Grund ein wenig ausführlicher vorgestellt werden:
Der zum Suizid entschlossene junge Mann trifft letzte Vorkehrungen. Die Musik wirkt so, als arbeite er eine Reihe von Maßnahmen ab, wie etwa das Aufräumen des Zimmers, das Schreiben eines Abschiedszettels und einiger Verfügungen, das langsame und bewusste Ankleiden. Dann folgt der Gang zum Ort der Selbsttötung. Er entschließt sich dazu, die vertrockneten Blumen, die die Müllerin ihm in einem der seltenen Momente aufrichtiger Geneigtheit geschenkt hat, mit ins Grab zu nehmen. Plötzlich ereilt ihn nun die Vision, die Samen dieser Blumen würden allesamt ins Keimen geraten, wenn die junge, kluge Frau einmal an dem unscheinbaren Rasen vorbeilaufen sollte, (man hört sie in der Musiklinie zügig gehen), mit einem kurzen, aber aufrichtigen Gedanken an seinen guten Willen, an seinen guten Kern. Wörtlich heißt es: „Und wenn sie wandelt am Hügel vorbei, und denkt im Herzen: Der meint‘ es treu! Dann Blümlein alle, heraus, heraus! Der Mai ist kommen, der Winter ist aus.“ (kursiv von der Verfasserin) Schubert entschloss sich zu einer Wiederholung dieses Satzes – und, was den letzten Teil betrifft, sogar zu einer dreifachenWiederholung, wie auch zu einer geradezu triumphalen Vertonung. Die Botschaft, die hier offenbar auf keinen Fall verloren gehen durfte, (die aber, trotz dreifacher Wiederholung, in akademischen Kreisen, meines Wissens nach, nie bemerkt wurde), lautet ganz einfach folgendermaßen: Werden ironische Distanz und intellektueller Hochmut, welche auch die junge Müllerin kennzeichnen, ein einziges Mal aufgegeben, und wird die Liebe des Verstorbenen ein einziges Mal so recht von Herzen ernst genommen und anerkannt, dann löst diese Anerkennung nichts weniger als einen neuen Frühling aus.
Der Erschaffungsprozess der Schönen Müllerin beweist die reale Möglichkeit dieses Vorganges. Denn auch die Gedichte von Wilhelm Müller sind nur durch die Anerkennung gekeimt, die der Dichter seinem Protagonisten hat angedeihen lassen, (oder vielleicht seiner eigenen, weiblichen Seite, eben jener schönen „Müllerin“). Trotz des Auftrages, ein ironisches Werk zu schaffen für einen kabarettistisch-heiteren Männerabend, entstanden 20 Gedichte, die tatsächlich von besonderer Feinfühligkeit und Liebefähigkeit durchdrungen sind. (Die zusätzlichen Gedichte, die das nicht sind, hat Schubert gar nicht erst vertont.) Diese Lyrik aber wäre ihrerseits der Vergessenheit anheimgefallen, wenn sie nicht Franz Schubert in die Hände gefallen wäre, der, anders als seine Zeitgenossen und Nachgeborenen, ihre Qualität sogleich erkennen konnte. Ja, die Betrachtung der Gedichte von Wilhelm Müller erzeugte in ihm eine Flut von kompositorischen Einfällen, die bis heute vor uns steht wie eine atemberaubende Blütenpracht, oder eben wie der schöne Müller selbst, was keiner außer Schubert als das eigentliche Potential dieser Lyrik hat wahrnehmen können.
Schubert erlebte während der Erschaffung dieses Wunderwerkes im Jahre 1823, mit knappen 26 Jahren, einen ersten Schub seiner Syphiliserkrankung. Einiges deutet darauf hin, dass er ab diesem Jahr endgültig voraussah, dass sein Leben nur von kurzer Dauer sein würde. Die Wahrscheinlichkeit, einen gewissen weltlichen Erfolg mit zu erleben, nahm dadurch noch weiter ab. Und auch wenn solch ein Erfolg dann nach seinem Tod eintrat, erscheint mir diese von Liebe durchdrungene Musik doch größtenteils begraben zu liegen unter unserer zeitgenössischen Gleichgültigkeit, Blindheit und intellektuellen Überheblichkeit. Was würde passieren, wenn wieder mehr Tropfen warmherziger Aufmerksamkeit auf dieses Areal fallen würden? Und lässt sich der hier beschriebene Vorgang nicht übertragen auf unsere heutige Situation, an der Abbruchkante einer ausgedienten, entleerten materialistischen Zivilisation, an der uns nichts anderes mehr zu umgeben scheint als entzauberte Materie, „grün alles grün so rings und rund“? Sehen wir nur noch dieses scheinbar Profane, Nichts-als-Materielle oder Banal-Psychologische, mit kühlem, intellektuellem Blick, so besteht gewiss die Gefahr, dass es irgendwann tatsächlich nur noch solches gibt. Und im Umkehrschluss: Öffnet sich unser Sehen für die verborgenen Keimkräfte hinter oder in den scheinbar langweiligen Oberflächen, könnte dieser menschliche Blick über eine Art von Zauberkraft verfügen, die der gegenwärtigen Finsternis neue Blüten zu entlocken vermag…
Dass gerade das Durchleben von Not und Schmerzen die Entwicklung einer solchen, neuen Sehfähigkeit befördern kann, können wir zum Glück immer wieder nachlesen bei einer der großartigsten „romantischen“ Schriftstellerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts mit Namen Astrid Lindgren.